J.D. Vance schrieb seine Lebensgeschichte mit 31 Jahren. Bereits im Vorwort rechtfertigt er sich dafür – was ihn mir sehr sympathisch machte – in so jungen Jahren seinen Lebenslauf zu veröffentlichen. Als Entschuldigung bringt er vor, dass er zwar nichts außergewöhnliches zu Stande brachte, doch tatsächlich ist er einer der seltenen Aufsteiger aus dem US amerikanischen „Hillbilly Milieu“, allgemein auch als „White Trash“ bekannt.
„Im Hintergrund meiner Geschichte lauert etwas, das mit ethnischer Herkunft zu tun hat. In unserer von Rassenbewusstsein geprägten Gesellschaft reicht das Vokabular oftmals nicht weiter als bis zur Hautfarbe: >>Schwarze<<, >>Asiaten<<, >>Weiße<< (und ihre Privilegien).“
Vance ist einer der Millionen weißen Arbeiter Ulster-schottischer Herkunft, den Abgehängten der Gesellschaft, die bereits früher als Tagelöhner in der Südstaatengesellschaft der Sklavenhalterära schufteten, später im Bergbau und dann in den, damals noch blühenden, Industriebetrieben des Rust Belt, die der Globalisierung zum Opfer fielen. Armut ist hier Familientradition, ebenso wie die Wellfare Queens.
Die ulster-schottisch/irischen Auswanderer, die Hillbillys der Appalachen, die sich im 18. Jahrhundert dort ansiedelten „sind kulturell erstaunlich einheitlich.“
Religiös, loyal, stark patriotisch, familienorientiert und sehr stolz mit ausgeprägtem Ehrbegriff, besonders, wenn es um ihre Familie geht.
Ursprünglich, in Greater Appalachia traditionell demokratisch wählend, änderte sich das Wahlverhalten nach Nixon und krempelte mittels der Wählerwanderung von den Demokraten zu den Republikanern die amerikanische Politik um. Zu Ungunsten der Wechselwähler.
Vance schildert seine Jugend und Kindheit nüchtern und sachlich, wird nur emotional, wo es um seine Liebe zu Mamaw und Pawpaw geht, seinen Großeltern, die ihm das Entkommen aus Armut, Gewalt, Drogen und Engstirnigkeit erst ermöglichten, ihm Liebe und Geborgenheit und Werte gaben. Das ist einerseits tief berührend, andererseits empfand ich es als hochgradig beschämend für Menschen wie mich, die ebenjenen „White Trash“ verurteilen, aufgrund der Einstellung, sie wären an ihrer Misere allein selbst schuld. Vance differenziert hier. Er sieht die Arbeitsunlust, den Pessimismus, besonders das Elend der Kinder, die in dysfunktionalen Familien, schlechter Ernährung und Hunger, mit drogensüchtigen, saufenden Eltern, meist ohne Vater, oder eher mit häufig wechselnden Ersatzvätern aufwachsen müssen. Es ist eine Spirale aus vielen verschiedenen Einflüssen die, wie mir und wohl auch vielen anderen, egal ob links oder konservativ wählenden und denkenden, Menschen nicht bewusst ist. Die meisten von uns kennen solche Lebensumstände nicht. Können das Denken dieser Menschen, der weißen Arbeiterschicht der USA nicht nachvollziehen, die laut Umfragen die pessimistischste Gruppe in ganz Amerika ausmachen.
Vance Anstrengungen diesem Milieu aus Armut, Depression und Elend zu entkommen und ein glückliches, „normales“ Leben zu führen sind wirklich äußerst bemerkenswert. Stilistisch schlicht aber packend und ergreifend zu lesen. Besonders, weil er keine wissenschaftliche Studie über das Problem Amerikas geschrieben hat, sondern seinen sehr privaten Werdegang von einem praktisch chancenlosen Kind des mittleren Westens zum Yale Law School Absolvent und erfreulicherweise zufriedenen Menschen. Das ist das Besondere an seiner Lebensgeschichte. Die Stärke, neudeutsch Resilienz, diesem psychisch emotional desaströsem Kindheitstraumata zu entkommen und sich ein glückliches, emotional ausgeglichenes, gewaltfreies, selbstbestimmtes Leben zu erkämpfen, denn ein Kampf ist es gewesen.
Was mich besonders an Hillbilly – Elegie fasziniert, sind die Rückschlüsse, die sich daraus ziehen lassen. Nicht nur bezogen auf die USA und die Wahl ihres derzeitigen unsäglichen Präsidenten. Vance Hillbilly-Elegie ist in Teilen und kleinerem Maßstab auch auf Europa übertragbar, wie am Untertitel „… einer Gesellschaft in der Krise“ zu erkennen ist. Auch in Europa gewinnen die Populisten, die, wie Vance schreibt, das Gefühlsleben der Zurückgelassenen für sich nutzen und ergo, so unterstelle ich, zumindest ansatzweise nachvollziehen können – was den Linken und den Etablierten bisher nicht gelungen ist – und, so mein Vorwurf, der sich auch an mich selbst richtet aufgrund ihres Unwissens und Unvermögens nicht gelungen ist. Seit Dutschke, der ein großartiger Redner und Rhetoriker war aber in den Teilen der Bevölkerung denen zu helfen man angetreten ist nie ankam und nie verstanden wurde.
So sollte dieser New York Times Bestseller Pflichtlektüre für alle sein, die mit dem momentanen Zustand unserer Gesellschaft unzufrieden sind und den Aufstieg des Populismus nicht nachvollziehen können. Vance liefert in seiner Biographie zumindest einige einleuchtende Erklärungsansätze.
Ein ergreifendes, Betroffenheit auslösendes, hochpackendes Buch.
Ein wenig Einblick in die Lebensumständes des sogenannten White Trash sind in dieser subversiv genialen Serie zu finden:
Buchdetails
- Erscheinungsdatum Erstausgabe : 07.04.2017
- Aktuelle Ausgabe : 07. April 2017
- Verlag : Ullstein Buchverlage
- ISBN: 9783550050084
- Gebunden: 304 Seiten
Bin gespannt auf den Autor!
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Ich fand seinen TED Talk dazu auch interessant, stimme nicht mit allem 100% überein, aber grundsätzlich spannendes Thema:
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Das freut mich. Winters Bone, überhaupt Woodrell begeistert mich auch. Vance reicht stilistisch dort bei weitem nicht ran, fasziniert dafür auf seine Art, die ich als sehr echt empfand.
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Kommt auf meine Liste! Ich war begeistert von Daniel Woodrells „Winter’s Bone“ und das Thema „White Trash“ interessiert mich.
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