Das Ende der Demokratie?

Erschütterung2015, zwei Anschläge haben Paris erschüttert. Anfang des Jahres, ein bewaffneter Angriff auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo. Ende des Jahres verschiedene Anschläge mitten im Nachtleben von Paris. Die Attentäter: in Frankreich geborene Islamisten. Die Opfer: Menschen aus allen Ländern. Die Zurückgebliebenen: entsetzt, traumatisiert, sprachlos.

„Und ich hatte an die Sinnlosigkeit dieser Tode gedacht, denen man durch keinen einzigen Satz, durch kein einziges Wort einen Sinn würde geben können. Man möchte einfach verstummen. Und dennoch muss weitergedacht werden.“

Nicht schweigen, reden, darüber nachdenken, handeln, nicht emotional, sondern sachlich überlegt – aber wehrhaft. Das zeichnet eine gesunde Demokratie aus. Gila Lustiger, unter anderem bekannt durch ihren Anfang 2015 erschienen Roman Die Schuld der anderen (auch nachzulesen hier), denkt in dem vorliegenden Essay darüber nach. Die Misere der Vororte von Paris hatte sie mit  „Agonie des Realen“ richtig umschrieben. Und die Agonie ist es letztendlich auch, die zu Wut, Zerstörung und Gewalt führt.

Die Unruhen in den Vororten Frankreichs 2005 waren die Vorboten für die Anschläge 2015 gelegt.

„Damals während der Jugendkrawalle 2005, wiesen Soziologen wie Michel Wieviorka darauf hin, dass es in den Banlieues niemanden gab, mit dem der Staat über mögliche Lösungen hätte verhandeln können. Diese Generation protestierte nicht, wollte nichts, suchte nichts, denn sie hatte die Gewissheit, dass sich keiner für sie interessierte, schon längst geschluckt und verdaut.“

Diese Zukurzgekommenen und Verlorenen sind heute die Wähler der Front National und auch Amerika hat dasselbe Problem mit dem populistischen Donald Trump. Gila Lustiger bleibt in Europa und erforscht die Ursachen dieser Aufstände. Warum zünden Jugendliche vermehrt Bibliotheken an? Eine Institution, die Bildung vermitteln will, und als Bildungsbürger wissen wir ja, dass dies ein probates Mittel gegen Arbeitslosigkeit, Gewalt und Extremdenken ist. Doch auch hier greift die Politik zu kurz, die Ursachen des Übels liegen ganz woanders. Lustiger zitiert aus der Politik der Würde von Avishai Margalit:

„Eine Gesellschaft ist dann anständig, wenn ihre Institutionen die Menschen nicht demütigen. Zur Demütigung gehört eine existentielle Bedrohung, weil der Täter – insbesondere wenn es sich dabei um eine Institution handelt – über sein Opfer Macht ausübt. Ein wesentlicher Bestandteil der Demütigung ist, dass der Täter seinem Opfer das Gefühl totalen Ausgeliefertseins vermittelt.“

Die Würdelosigkeit mit der die staatlichen Institutionen mit diesen Menschen umgeht ist eines der Kernprobleme – einhergehend, dass die Menschen in den Vororten nicht das Gefühl haben von sich aus an der Gesellschaft teilzuhaben.

„Mir scheint, dass die Gesten des Gebens, Nehmens und Erwiderns auch heute noch Garanten sozialer Bindung sind. Jedenfalls ist klar, dass der Sozialstaat mit all seinen Förderprogrammen und Geldern weder Unruhen noch Terror verhindern kann. „Wenn wir keine Gegenleistung erwarten, machen wir damit deutlich, dass wir zwischen uns und dem Empfänger unserer Gabe kein Gegenseitigkeitsverhältnis sehen“ hob Richard Sennett in seinem Werk Respekt im Zeitalter der Ungleichheit hervor. Respekt wird immer durch Gegenseitigkeit geschaffen.“

Diese Gegenseitigkeit ist nicht mehr gegeben. Von den Institutionen herabgewürdigt, von der Gesellschaft verachtet, haben diese Menschen nichts mehr, was sie zurück geben können, das jemand anderes auch will! Was ist aber diese Gesellschaft? Ein schwammiges Wort, das je nachdem was ich ausdrücken möchte so oder so verwendet wird. Auch hier findet Gila Lustiger für sich eine Antwort, etwas das uns alle angeht!

„Ich habe übrigens in dem Text von Arendt eine der schönsten Definitionen für Gesellschaft gelesen. Für sie war die Welt ‚von sterblichen Händen geschaffen[…], um Sterblichen für eine begrenzte Zeit als Heimat zu dienen.‘ Es gibt für mich keine tröstlichere Vorstellung, als zu wissen, dass Menschen tagtäglich ein wenig die Welt einrenken, damit sie uns als Heimat dienen kann. Dass man in ihr nur kurz verweilt.“

Was gegen Terrorismus, Gewalt und Anschläge zu tun ist, darauf kann Gila Lustiger uns keine direkte Antwort geben. Eine wehrhafte Demokratie heißt bei ihr aber nicht Truppen, Panzer und Gewehre, eine wehrhafte Demokratie denkt zuerst über ihre Werte nach und verteidigt diese – zuallerst mit dem Wort. Was man dem Essay vorwerfen kann ist, dass es sich nicht mit der Religion, als mögliches Tatmotiv, sowie als Grund wegen der wegfallenden Unterstützung der Menschen, beschäftigt. Auch kein Wort zu Houellebecq.

Doch das alles ist nicht der Ansatz von Gila Lustiger. Erschütterung ist ein kluges, nachdenkliches aber höchst wichtiges Essay das hier vorliegt, eine Grundlage zur Diskussion, auch als Trost, um mit dem Unglaublichen fertig zu werden. Das letzte Wort hat die Autorin:

„Die Welt ist derzeit ziemlich aus den Fugen geraten. Vielleicht hat diese Aktion bei dem einen oder anderen wirklich etwas ausgelöst. Auf jeden Fall sollte man sich nicht von irgendwelchen Bedenken abhalten lassen, zu versuchen, sie ein wenig einzurenken.“

Buchdetails:

  • Aktuelle Ausgabe : 1. März 2016
  • Verlag : Berlinverlag
  • ISBN: 978-3-827-01332-3
  • Gebunden: 160 Seiten

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