Vergangenheit – Wurzeln, um sich als Individuum seinen Platz erobern zu können oder Ballast, den man abwerfen muss, um zu sich selbst zu finden? Sacha Batthyany begibt sich auf Spurensuche nach Ereignissen in der Vergangenheit, die plötzlich ans Licht gebracht ein schlechtes solches auf seine Familie – und damit auch auf ihn? – werfen.
Die Gedanken, die ihm zu den Vorwürfen seiner verstorbenen Tante Margit gegenüber durch den Kopf gehen, sind ganz persönlicher Art: Hat diese Tat, die Tante Margit kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges vielleicht nicht aktiv begangen, aber auf keinen Fall verhindert hat, etwas mit ihm zu tun?
Was genau war passiert? In der Nacht vom 24. auf den 25. März 1945 fand auf dem Schloss der Gräfin Margit Batthyany, geborene Thyssen, ein Gefolgschaftsfest der Nazis statt. Kurz vor oder um Mitternacht zogen einige der Gäste mit Gewehren los. Um die 180 Juden wurden erschossen oder erschlagen und in einem Massengrab verscharrt. Danach ging die Feier weiter.
2009 wurde der Fall durch einen englischen Journalisten wieder aufgegriffen – hier beginnt Sacha Batthyanys Reise in die Vergangenheit. Wobei die Vorgänge selbst durch den Dokumentarfilm „Totschweigen“ bereits hinlänglich bekannt waren und somit die Vorwürfe durchaus nicht neu für die Öffentlichkeit – 2010 nahm sich Elfriede Jelinek der Sache in Form eines Theaterstückes an. Für Sacha Batthyany jedoch waren das Neuigkeiten, die ihn persönlich betrafen.
Und hier stellt sich die Frage: Kann man eine solche Tat als (entferntere) Familie tatsächlich so weit ausblenden, dass die Nachgeborenen überhaupt nichts davon erfahren? Familiengeheimnisse tragen häufig dazu bei, Dinge, die eigentlich nicht mehr geschehen sollen entgegen der wohlgemeinten Absicht in die nächsten Generationen zu tragen. Ob Batthyanys Entwurzelung, die er trotz beruflichem Erfolg und privatem Glück als ständigen Wegbegleiter empfindet daher kommt?
Batthyanys Vater ist im Besitz des Tagebuchs seiner eigenen Mutter, die dieses nach ihrem Tod verbrannt wissen wollte. Dass dies nicht geschehen ist, könnte man als Wunsch danach deuten, endlich mit den Familiengeheimnissen aufzuräumen, es aber selbst nicht zu schaffen. So muss also der Profi – Batthyany ist Journalist – und Enkel die Sache klären.
Seine Suche nach Wahrheit lässt ihn ein weiteres Geheimnis aufdecken. Das entfernt ihn jedoch nicht weiter von seiner Familie, sondern stärkt die Beziehung zu seinem Vater dadurch, dass sie zusammen die Orte aufsuchen, an denen Sachas Großvater lange Zeit verbringen musste – in Sibirien. Zwar ist die direkte Kommunikation zwischen den beiden nach wie vor schwierig, doch hat sich etwas verändert.
Sasha Batthyany lässt uns teilhaben an seinem Streben nach Wahrheit, die er nicht ganz finden wird – oder uns nur nicht mitteilt ? – an seiner Unsicherheit bezüglich der eigenen Grenzen und vor allem derer anderer Menschen, an der Spannung, die die Suche mit sich bringt. Er empfindet die Recherche, die er beruflich ja gewohnt ist, als Krimi. Seine Therapiestunden, zu denen er uns ganz offen und ohne Scham als Zuschauer einlädt, drehen sich nicht mehr nur um die Frage nach seiner eigenen Unsicherheit, sondern darum, ob diese Unsicherheit eben mit den Familiengeheimnissen zu tun hat, in der Vergangenheit wurzeln. Dabei zeigt sich im Verlauf auch für den Therapeuten, dass der Zweite Weltkrieg heute noch Auswirkungen zeitigt. Vor allem gesellschaftliche. Die Aufarbeitung ist noch längst nicht vorbei und wird durch das Sterben von Zeitzeugen nicht einfacher.
Auch in meiner Familie – sowohl in meiner Kernfamilie, als auch in der angeheirateten – gab oder gibt es Wunden, die dieser Krieg geschlagen hat. Als Tochter eines Mannes, der mit 17 Jahren kurz vor Ende des Krieges noch eingezogen wurde, sich aber glücklicherweise mit einigen Mitstreitern absetzen konnte und somit dem Schlimmsten entging und als Tochter einer Frau, deren geliebter Vater unglücklicherweise im Mai 1945 an einer nicht mehr versorgten, eigentlich nicht allzu schlimmen Verletzung durch Wundbrand sterben musste, kann ich sehen, wie sehr die Ereignisse auch mein Leben betreffen, obwohl in unserer Familie genau darüber gesprochen wurde. Ich hoffe, dass nichts verschwiegen wurde, doch mit Sicherheit sagen kann ich es nicht. Wäre aber mein Großvater mütterlicherseits nicht so tragisch verstorben, dann wären mein Vater und meine Mutter sich wohl nie begegnet …
Diese Auswirkungen und was sie mit uns machen, zeigt Batthyany in eindrucksvoller Art und Weise: empathisch, ohne Pathos, sachlich, journalistisch fundiert, dennoch persönlich und gleichzeitig ungemein spannend. Ein Buch, das ich trotz der unangenehmen Wahrheiten nicht mehr aus der Hand legen mochte. Auch weil es zeigt, dass es unsere Entscheidung ist, wie wir damit umgehen. Aber um den Ballast abwerfen zu können, müssen wir die Wurzeln kennen. Daran geht kein Weg vorbei.
Buchdetails
- Aktuelle Ausgabe : 18. Februar 2016
- Verlag : Kiepenheuer & Witsch
- ISBN: 978-3-462-04831-5
- Gebunden: 256 Seiten
Interessant war vor allem für mich, dass er trotz seines beruflichen Erfolgs an einer Art Wurzellosigkeit leidet, die ganz viele Männer seines Alters verspüren. Bin gespannt auf deine Eindrücke und werde sie verfolgen 😉 LG
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Stimmt. Es wurde schon zu viel verborgen und geschwiegen. Es hat den Autor sicher sehr viel – gekostet, sich so auseinanderzusetzen. Hut ab. Bin gespannt.
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Es lohnt sich auf jeden Fall – ich konnte es wirklich kaum aus der Hand legen. Gerade heute, in unseren Zeiten, wo so viele Dinge passieren, die mir persönlich ganz schön Sorge bereiten. Ich habe viel gelernt bei der Lektüre. Ob man den Ballast ganz los werden kann, wahrcheinlich nicht – da hast Du wohl Recht. ABer man kann wohl besser damit umgehen. LG
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Ganz wird man ihn wohn nicht los, diesen Ballast, auch wenn die Enkel, die Kinder nicht persönlich anwesend waren. Unabhängig davon, ob sie sich damit auseinander setzen…. Erstaunlich wie Tagebücher doch nicht verbrannt werden, Erzählungen und Hinweise überdauern. Das ist für mich der wahre Krimi heirbei – mit Gänsehautgarantie. Ich glaube, dieses Buch landet bald auf meinem Stapel. Danke für die Besprechung!
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