Brilka bricht aus. Die zwölfjährige aus Georgien, die mit einer Tanztruppe in Amsterdam zu Besuch ist, setzt sich in einen Zug nach Wien. Warum sie das tut und warum dies der Einstieg zu einer faszinierenden georgischen Familiengeschichte ist, erfahren wir auf den nächsten 1270 Seiten. In dieser Geschichte von acht Leben und 100 Jahren, ist ein Anfang so gut wie jeder andere. Brilka ist aber der Auslöser, dass diese Geschichte überhaupt geschrieben wird und so fängt das Buch am Ende an, um die Wurzeln und den Anfang dieser wunderlichen und außergewöhnlichen Familie zu erzählen. Erzählt wird diese Geschichte FÜR Brilka von ihrer Tante Niza aus Berlin. Und es ist nicht nur eine Familiengeschichte, sondern eine Reise durch die Geschichte Georgiens.
Alles in der Welt wird durch die Geschichte gerechtfertigt. Tschechow
Die Geschichte, die Niza erzählt, muss sie sich von den noch Lebenden holen, es wird für sie auch eine persönliche und sehr intime Reise in ihre eigenen Gefühle, vor denen sie von Georgien nach Berlin geflüchtet ist.
„Brilka, manchmal habe ich das Gefühl, dass mir beim Erzählen die Luft wegbleibt, dann muss ich innehalten, ans Fenster treten und tief Luft holen. Es ist nicht wegen der richtigen Worte, die man nicht findet, nicht wegen der strafenden Götter, Richter und allgegenwärtigen Chöre. Auch nicht wegen der Geschichten, die alle erzählt werden wollen; es ist vielmehr wegen der Leerstellen. Die Geschichten überlappen sich, gehen ineinander über, verwachsen – ich versuche, diese Wollknäuel auseinanderzuziehen, weil man ja die Dinge nacheinander erzählen muss, weil die Gleichzeitigkeit der Welt nicht in Worte zu fassen ist.“
Die erste Station ist Stasia, Anfang des 20.Jahrhunderts, die viel erduldet und sehen muss wie ihre wunderschöne Schwester Christine in die Fänge der Macht kommt. Die Macht, die ihr Leben grundlegend verändern und noch Jahrzehnte später die Familie in Pro und Contra Russland spalten wird. Die Zusammenkunft mit dem großen, kleinen Mann (Josef Stalin), geboren in Georgien, ist eine der Schlüsselszenen der Familie:
„[Sie wurde Zeuge], wie der Mann mit dem Kneifer anfing, ihre Schwester zu mustern, als sei sie eine Beute, die man unbdingt erlegen musste, seine Blicke immer unverfrorener und angriffslustiger wurden, er auf die wohlgeformten Lippen, auf die kleinen Brüste und auf die schmalen Handsichel starrte, wie er angeheitert anfing, einen zehnminütigen Toast auf die georgischen Schönheiten zu halten, und dabei keine Sekunde lang die Augen von Christine ließ. Und wie ihr Mann zufrieden nickend danebensaß, versöhnlich lächelnd, und wie sein Kinn dabei ein wenig zitterte. Spätestens da wußte Stasia, dass die Haut der Welt rissig werden würde. Sie wusste dass die Erde sich übergeben und die Ruinen sichtbar werden würden, dass ein abgrundtiefer Spalt durch all die Jahrhunderte gehen, sich in der Erde öffnen und einen blutigen Abgrund freigeben würde.“
Die Macht streift die Familie und erleichtert vieles in ihrem Leben, verhindert aber nicht, dass die Wirren des Krieges Stasias Sohn Kostja in die umkämpften Gebiete nach Leningrad bringt, wo er die Liebe seines Lebens kennenlernt, die im ausgehungerten Leningrad eine folgenschwere Entscheidung trifft, als sie ein kleines blindes Mädchen trifft:
„Das Mädchen konzentrierte sich, rieb die Hände aneinander, blies ihren Atem in die Fäuste hinein und setzte an. Ida stand an die Wand gelehnt und hörte ihr wie verzaubert zu. Sie folgte dem Spiel des Mädchens, die ihr mit jeder Note den Krieg aus den Armen, aus dem Körper, aus dem Kopf trieb und sie in eine Andere Welt versetzte. Eine Welt, in der es erleuchtete Cafés und strahlende Boulevards gab, auf denen wohlgenährte Menschen flanierten.“
Kostjas Schwester Kitty gelingt die Flucht nach England, wo sie zu einer erfolgreichen Sängerin wird, deren Album ‚Home‘ Brilka so sehr liebt:
„Ich erinnere mich so genau, Brilka, als wir beide zusammen mit dem Wagen Griechenland durchquerten, haben wir über das erste Lied dieses Album gesprochen, das den Albumnamen trägt, und ich erinnere mich, wie Du gesagt hast, dass es in diesem Lied nicht etwa um einen Ort oder ein Land geht, sondern um einen Zustand. Du hast gmeint, es sei ein Lied über die Kindheit, und mich damals gefragt, wo man die Kindheit denn aufbewahre, und ich weiß noch, dass ich die geantwortet habe, man halte sie zwischen den eigenen Rippen versteckt, in den kleinen Leberflecken und Muttermalen, im Haaransatz, oberhalb des Herzens, in den Ohren oder im Lachen.“
Nur im Ansatz kann der Rezensent die Geschichten streifen, die hier erzählt werden. Nino Haratischwili ist ein geschichten- und geschichtstrunkener Roman gelungen, der mit der fein versponnenen, lebendigen, ja fast schwingenden Sprache sehr genau und detailliert die Geschichte des 20.Jahrunderts mit der Geschichte der Familie verbindet. Dabei führt sie uns auch detailgetreu in die Ereignisse des kleinen Landes am Kaukasus und des großen Bruders Russland ein, so entsteht ein wirklich sehr genaues Bild des letzten Jahrhunderts – und einer Familie, die inmitten dieser Schicksalsschläge ihre Haltung und Kraft bewahren muss.
Gerade diese Kombination von Einzelschicksalen und Weltpolitik verbindet die Autorin so gelassen und beseelt, so worttrunken und zielsicher, dass nicht nur die Charaktere, alle bis in die Nebenfiguren ungemein bildlich vor dem geistigen Auge aufkommen, auch die Vergangenheit wird so nicht zu einem trockenen trostlosen Zahlenplatz. Über Georgien sagt man, dass gerade die Sprache, die die Georgier verbindet, eine der komplexesten Sprachen der Erde, ein Schmelztiegel von arabischen, russischen und europäischen Elementen ist. Die Autorin hat in ihrem Buch, dass sie auf Deutsch geschrieben hat, auch einen ganz eigenen melodischen, zärtlich melancholischen Rhythmus, der einen beim Lesen immer nach vorne schiebt, so dass die Seiten wie im Fluge vorüber fliegen..
Nino Haratischwili ist ein lebendiges, wuchtiges aber auch feinsinniges, liebevolles Familienepos gelungen, das seinesgleichen in der neueren Literatur sucht und bis zur letzten Seite die Emotionalität und Spannung hoch hält. Ein besonderes Buch, das glücklicherweise 1270 Seiten hat.
Buchdetails:
- Aktuelle Ausgabe : 1. September 2014
- Verlag : Frankfurter Verlagsanstalt
- ISBN: 978-3-627-00208-4
- Gebunden: 1280 Seiten
Vielen Dank, hab die Lektüre noch einmal Revue passieren lassen. Im Nachhinein war dieses „Mammutprojekt“ vielleicht einige hundert Seiten zu lang und Kürzungen hätten nicht geschadet, wie meist bei solchen Tausendern. Dennoch hat mir die Herangehensweise der wunderbaren Autorin gefallen …
Kleine Korrektur hätte ich zu deiner Besprechung noch: „Die Zusammenkunft mit dem großen, kleinen Mann (Josef Stalin), geboren in Georgien, ist eine der Schlüsselszenen der Familie“
Das müsste nicht der große Diktator sein, der ebenfalls Georgier war, sondern Lawrenti Beria, lange Zeit ein enger Vertrauter Stalins. Er war so etwas wie der Sohn Saddam Husseins, Udai Hussein, der zahlreiche Frauen vergewaltigt, missbraucht hat. Jemand, der nur mit dem Finger schnippen musste und die Frau gehörte ihm, war danach spurlos verschwunden. Die Bezeichnung „Schwein“ könnte kaum passender sein.
Beste Grüße
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Also MUSS sollte keine Lektüre sein, diese ist ein absoluter Hochgenuss und zum Glück sehr lange anhaltend. Ein Schwelgen besonderer Art!
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Ein Roman, den ich unbedingt in Kürze lesen will. So viele positive Stimmen hat es zu diesem Buch gegeben. Sicherlich deshalb auch ein Lektüre-Muss.
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