Henry Steiger hat seinen Zenit als Lyriker überschritten: In der DDR bekannt und angesehen, haben sich die Dinge nach der Wiedervereinigung für ihn verändert: Kaum jemand liest noch Lyrik, man kennt und achtet ihn nicht mehr. Zudem ist er nicht mehr der Jüngste. Henry lebt nunmehr in einer Künstlerenklave mit anderen Stipendiaten, denen er sich überlegen fühlt und verliebt sich in die junge westdeutsche Debütautorin Sidonie, die er zugleich als naiv und erfrischend empfindet.
Petra Morsbach erzählt in ihrem Roman „Dichterliebe“ vom Leben Henrys zu Beginn der 90er Jahre, in denen der Lyriker gezwungen ist, unter anderem schlecht bezahlte Übersetzungsarbeiten anzunehmen, um sich überhaupt finanziell – mehr schlecht als recht – über Wasser halten zu können. Dabei ist es Henry selbst, der seine Geschichte erzählt und der den Leser direkt an seinen Gedanken teilhaben lässt: Er ist kein Sympathieträger, kommt arrogant und selbstgerecht daher, dann wieder trieft er wieder nur so vor Selbstmitleid.
Warum das trotzdem sehr angenehm und kurzweilig zu lesen ist? Weil Morsbach diesen Henry Steiger immer ein wenig überzeichnet und der ganze, kluge Roman von feinem Humor und Ironie durchzogen ist.
Da sind zum Beispiel die Passagen, in denen Henry sich fast gegen seinen Willen in Sidonie verliebt – seiner Meinung nach kann sie ihm natürlich nicht das Wasser reichen:
„‚Poetisch…‘ sagt Sidonie andächtig.
Hier muß ich ein bißchen leiden, denn Poesie poetisch finden bezeugt eine ähnliche Kompetenz wie Wein süffig finden – was sonst will Wein als gesoffen sein? Ich vermerke aber positiv, daß gängige Westadverbien fehlen: Sie hätte ja auch echt poetisch sagen können, oder total spannend.'“ S. 79
Sowieso steht Henry der Wende und den Veränderungen, die diese mit sich bringt, ambivalent gegenüber. Vieles wurde einfacher, aber irgendwie bleibt er auf der Strecke: Prosa soll er nun schreiben, rät ihm sein Verleger, einen Liebesroman am besten, aber das könne doch jeder, meint Henry, das sei unter seiner Würde. Allerdings muss Geld her, auch für den Scheidungsprozess, in dem er gerade steckt. Man könne einen Prozesskostenzuschuss beantragen, so Sidonies Vorschlag. Er solle seine Übersetzungen und Lesungen nachweisen, und dabei werde ja nicht so viel herauskommen, so dass man ihm einen Zuschuss zuerkennen werde.
„Ich stolpere über das Wort Übersetzungen. Ich mache keine Übersetzungen, sondern Nachdichtungen, doch welchen Sinn hat es, Sidonie den Unterschied zu erklären?“ S. 54
Im Laufe des Romans erfährt der Leser einiges über Henrys Vergangenheit, über Kollegen und seine meist mehr oder weniger arrogante Haltung ihnen gegenüber, über viele Frauen, gescheiterte Beziehungen. Man könnte kritisieren, dass die eigentliche Geschichte hier nicht vorankommt, dass hier Episoden aneinander gereiht werden, aber durch Morsbachs geschliffenen Stil und ihren so feinen Humor, dadurch, dass sie diesen Henry, der ein echter Stinkstiefel sein kann, niemals ganz ernst nimmt, liest sich das durchgehend unterhaltsam. So ist der Roman vor allem eine genaue Charakterstudie Henry Steigers, der sich so oft von der Welt unverstanden und zu wenig anerkannt fühlt. Ein sensibler Künstler eben.
„Dichterliebe“ ist ein interessanter Ausflug in eben dieses Künstlermilieu, in dem Henry sich bewegt, und eine gelungene Geschichte um Menschen kurz nach der Wiedervereinigung. Die Autorin trifft den Ton, bewegt sich gekonnt zwischen Ernsthaftigkeit und Komik. Petra Morsbach weiß, wovon sie schreibt. Dies trifft im Übrigen in gleichem Maß auf ihren „Opernroman“ zu, der sehr realitätsnah die Dynamiken zwischen den Beschäftigten an einem Opernhaus abbildet, und der hiermit ebenso empfohlen sei.
Buchdetails
- Aktuelle Ausgabe : 12. Januar 2015
- Verlag : btb Verlag
- ISBN: 978-3-442-74829-7
- Flexibler Einband: 288 Seiten