Jerry beantwortet keine Briefe

9783813505153_CoverHand aufs Herz: Wer von uns Bibliomanen träumt nicht selbst davon, entweder ein Buch zu schreiben, in einem Verlag oder einer Agentur zu arbeiten oder sich mit Autoren geliebter Geschichten austauschen zu können. Zum Teil bloggen wir sicher auch aus einem dieser Gründe. Wir lieben Geschichten, und deren Urheber und Bücher sind für uns wie die Luft, die wir zum Atmen brauchen. Manchmal geht diese Manie – nennen wir das Kind ruhig beim Namen – soweit, dass wir auch unsere Ausbildung, unser Studium darauf auslegen, einmal direkt dazu zugehören. So ganz. Nicht nur für ein paar Tage auf einer Messe oder ein paar Stunden bei einer Lesung oder Buchpräsentation. Die Leidenschaft, das Hobby zum Beruf mit Berufung machen. Ob das dann alles noch so reizvoll ist, wie aus der Ferne betrachtet – das steht in den Sternen.

Joanna Rakoff hat mittlerweile einige der Stufen im Kreis der Erlauchten erklommen. Die erste direkt nach ihrem Studium, in einer Agentur für Autoren. Aber nicht nur in einer x-beliebigen, sondern in der Agentur, die den geistigen Vater Holden Coulfields, den großen J. D. Salinger persönlich, vertritt. Dass dem so ist, wird ihr allerdings erst nach und nach bewusst, hat sie selbst zu diesem Zeitpunkt weder Der Fänger im Roggen noch eines der anderen Bücher Salingers gelesen, sich aber angeblich an einem Tag durch David Foster Wallace‘ Unendlicher Spaß „gefräßt“ …

Was Rakoff sofort auffällt, ist die Tatsache, dass die Agentur einen Dornröschenschlaf schläft, was die technischen Entwicklungen der Neuzeit angeht: Kein einziger Computer ist vorhanden, alles Schriftliche wird über Diktaphon und Schreibmaschine auf dem postalischen Weg erledigt. E-Mail gibt es nicht. Aber im Laufe ihres Agenturjahres wird sich einiges ändern. Ein – in Worten EIN – Computer wird angeschafft, für die gesamte Agentur, E-Mails werden möglich und zentral verwaltet. Einer der Agenten – jung, dynamisch, äußerst erfolgreich – stellt sogar die bisherige Arbeitsweise, ein Manuskript einem Verlag gezielt anzubieten, komplett in Frage und versteigert die Manuskripte seiner Autoren meistbietend.

Nicht nur Agenturen, auch Verlage und Buchhandlungen ticken anders, als alle anderen Branchen, die eine Ware an den Mann oder die Frau bringen wollen. Denn Bücher zu verkaufen ist weit mehr, als nur eine Ware zu vertreiben. Bücher bieten Geschichten, die uns neue Welten bereisen lassen, unseren Horizont erweitern, mehr Verständnis für andere Lebensweisen wecken und – im besten und schönsten Fall für mich – finden wir uns selbst wieder zwischen den Zeilen, in den Bildern, die sich in unserem Kopf zur Melodie des Geschriebenen abspielen.

Es gibt Autoren, die Geschichten zu Papier bringen, die ein so hohes Identifikationspotential für die unterschiedlichsten Menschen bergen, dass eben diese Geschichten von Generation zu Generation weitergegeben und innerhalb eines Lebens immer wieder neu und anders gelesen werden. J. D. Salinger ist einer dieser begnadeten Schriftsteller, die vielen Menschen so nah kommen, dass es fast schmerzt.

„Wenn man Salinger liest, ist es nicht so, als läse man eine Erzählung; es ist, als flüsterte einem Salinger höchstpersönlich seine Geschichten ins Ohr.“ (Seite 240) 

Direktheit, so nah, dass es weh tut. Unverhüllte Figuren, kein geheimer Gedanke, alles liegt bloß vor uns. Manchmal kaum auszuhalten, aber eben nur kaum.

„Seine Figuren sitzen nicht herum und denken über Selbstmord nach. Sie nehmen Pistolen und schießen sich in den Kopf.“ (S. 240)

Die Grenze des Aushaltbaren so auszureizen und sie doch nicht zu übertreten, ist eine große Kunst und J. D. Salinger war einer der Meister.

Die andere Seite des Sichnäherkommens der Leser und Figuren (und damit für die meisten Leser auch zwischen ihnen und dem Autor) ist der Wunsch, einen tatsächlichen, persönlichen Kontakt herzustellen:

„Und so kommt es natürlich, dass bei seinen Lesern der Wunsch entsteht, ihm nahe zu sein. Ihm zu sagen, ‚da tut es weh‘ oder ‚hier hast du mir Linderung gebracht‘.“ (S. 240)

Allerdings ist es wohl gerade für kunstschaffende Menschen schwer, diese ganz persönliche Nähe auszuhalten und den eigenen Anspruch, angemessen auf die dargebrachte Verehrung zu reagieren, zu erfüllen. Vielleicht ist es auch so, dass Menschen, die uns auf der Bühne, im Film oder durch ihre Bücher so nah und extrovertiert erscheinen, im Privaten eher schüchterne Wesen sind. Und so sollen im Falle J. D. Salingers stapelweise vom Verlag an die Agentur weitergeleitete Fanbriefe mit einem Standardbrief beantwortet werden. Was als Verschrobenheit des Starautors gilt, ist doch menschlich nur zu gut nachvollziehbar.

Was diese Nähe tatsächlich auslöst, erfährt Rakoff an nur einem Wochenende, an dem sie sämtliche bisher erschienenen Werke Salingers inhaliert. Sein Schreibstil, seine Figuren, seine Geschichten – alles fasziniert, begeistert und berührt sie in tiefstem Maße. Die Verweise und die Dringlichkeit der Fanbriefe werden klarer für sie. Der Wunsch Salingers, nichts (mehr?) mit diesen Briefen zu tun zu haben aber auch, denn ein angemessenes Reagieren ist nicht denkbar.

„Man kann nicht rumrennen und aller Welt seine verfluchten Gefühle zeigen.“ (S. 241)

Es gibt sie, diese Bücher, die einen ein Leben lang begleiten und in den unterschiedlichen Lebensphasen neue Erkenntnisse gewinnen lassen. Für Joanna Rakoff waren es alle Bücher Salingers. Diese Liebe zur Literatur im Allgemeinen beschreibt sie neben den authentisch geschilderten Problemen des „Erwachsenwerdens“ mit großer Herzenswärme und sehr authentisch. Nebenbei gelingt es ihr auf großartige Weise, den Wunsch zu wecken, wieder einmal eines von Salingers Meisterwerken in die Hand zu nehmen und nichts anderes zu tun, als zu lesen und genießen.

„Haben Sie Salinger gelesen? Wahrscheinlich schon. Können Sie sich daran erinnern, wie es war, als Sie Holden Caulfield zum ersten Mal begegnet sind? Wie es Ihnen den Atem verschlug, als Sie erkannten, dass dies ein Roman war, eine Stimme, eine Persönlichkeit, eine Art, Geschichten zu erzählen, und ein Blick auf die Welt wie er Ihnen bis dahin noch nie begegnet war?“ (S. 237)

Bei mir liegt gerade Franny und Zooey – meine absoluten Lieblinge – bereit. Ein altes, zerschlissenes Taschenbuch … und die Neuübersetzung … mal sehen, ob und was sich zwischen den Buchdeckeln und in den Jahren bei mir verändert hat.

Buchdetails

  • Aktuelle Ausgabe : 23. Februar 2015
  • Verlag : Knaus
  • ISBN: 978-3-8135-0515-3
  • Gebunden: 304 Seiten

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