Sisterhood

Lonely one out there on an eagle’s wings. You’re bringing something they can*t bring. And singing something, they can’t sing.
I know it’s lonely when. Saying something they ain’t heard. Don’t. Want to share a mumbling word. Cause. They’ll come for you and you’ll get purged.
But you can only be who you are

Als ich darüber nachdachte, wie man Adrienne Brodeurs wunderbaren Roman Treibgut adequat besprechen könnte, fiel mir plötzlch diese eine Zeile aus Jon Batistes Lied Be who you are ein. Beim Hören des Liedes, das in letzter Zeit häufig bei mir läuft, dachte ich mir immer wieder, ja so einfach ist das halt nicht, mit dem „Sein wer man ist“. Aus meiner Sicht gerade eben als Frau, die unwillentlich irgendwie häufig geprägt davon ist, eine bestimmte Rolle ein- und das eigene Wesen dadurch zurückzunehmen. Brodeur hat mir tatsächlich gezeigt, dass diese Zurücknahme aus den unterschiedlichsten Gründen, nicht nur vermeintlich „schwachen“ Frauen passiert und, dass die Selbstwerdung durchaus auch Männern schwer fällt, die sich dann aber – im Gegensatz zu Frauen – meist nicht zurücknehmen, sondern ein dominantes Verhalten an den Tag legen. Subtil und spannend erzählt sie vor der paradiesischen Kulisse Cape Cods von (alten) Verletzungen, gekappten Banden, neu gewonnener Stärke, wieder gefundenen Freundschaften und der Einsicht, dass angepasstes Verhalten keine Unbill verhindert.

Gesunde Beziehungen sind keine leichte Sache. Immer gilt es, die Balance zwischen der Einheit, die im besten Fall zwischen den beteiligten Menschen entsteht und der Autonomie der Individuen zu halten. Als Kind ist man mehr oder weniger angewiesen auf die besondere Beziehung zu den Eltern. Doch nicht alle Eltern sind in der Lage, die Bedürfnisse ihrer Kinder zu erfüllen. Sei es, weil sie selbst nie gelernt haben, ihre Bedürfnisse adequat auszudrücken oder sie aus anderen Gründen zu viel mit sich selbst zu tun haben. Adam Gardner ist durch den plötzlichen Tod seiner Frau, kurz nach der Geburt der gemeinsamen Tochter Abby, vor die schwierige Aufgabe gestellt, seine beiden Kinder alleine groß zu ziehen. Als führender Ozeanologe ist er einerseits eingenommen von seiner Forschung und andererseits muss er mit seiner psychischen Prädisposition, die sich in einer bipolaren Störung zeigt, klarkommen.

Während Abby, wie sie selbst sagt, nie vermissen konnte, was sie nicht hatte – ihre Mutter – ist ihr großer Bruder Ken durch den Verlust der geliebten Mutter schwer traumatisiert. Zwar fährt er mit seinem Vater häufiger raus, um zu angeln, die Untiefen im Nantucket Sound zu erkunden oder Wale, die das erklärte Forschungsgebiet Adams sind, zu beobachten, während Abby schon als Kind fast selbstvergessen, autonom und scheinbar zufrieden am Strand mit allerlei Angeschwemmten spielt, doch fühlt er sich seiner Schwester gegenüber immer im Wettstreit, immer zurückgesetzt.

Immer schon? Dass alles einen tieferen Grund hat, dass die Einheit, die die beiden Geschwister früher einmal gebildet haben, irgendwann zerbrach, schält Brodeur behutsam, quasi analog zu der Therapie, zu der Ken später von seiner Frau Jenny verdonnert wird, um ihre angeschlagene Ehe zu retten, sehr geschickt heraus. Als Leser*in ahnt man zwar etwas, aber es gibt ja bekanntnlich viele Gründe, die Geschwister entzweien können.

Im Gegensatz zu anderen Romanen, die den Blick vor allem auf das Leben von Frauen richten, hat Brodeur mit Abby und ihrer besten Freundin und Schwägerin Jenny zwei Frauen geschaffen, die mich dadurch beeindruckt haben, dass sie autonom bleiben wollen bzw. wieder werden. Während Abby den Weg als Künstlerin, die sich mit eher allgemeinen Themen wie Ökologie und Umwelt beschäftigt, hin zur Reflexion persönlicher Themen, mit denen sich ein Großteil der weiblichen Erdbevölkerung identifizieren kann, beschreitet, hat Jenny ihre Kunst aufgegeben. Wild und ungezügelt, in Rebellion ihrer reichen Familie gegenüber, lebte sie ihr Studentenleben. Doch als ihre Mutter schwer erkrankte, kehrte sie zur Familie zurück und änderte ihren Lebensstil drastisch. Und obwohl sie sich in Abbys älteren Bruder Ken verliebte, ihn heiratete und eine eigene Familie mit ihm gründete, zerfaserte das enge Freundschaftsband zu ihrer besten Freundin. Erst als sie das gut gehütete Geheimnis von Ken durch Zufall entdeckt und die beiden in der Krise stecken, kommen sich Abby und sie wieder näher.

Brodeur schafft es mit Leichtigkeit, Lebensfragen und Krisen, die wohl den Großteil aller Menschen, seien sie reich oder arm, irgendwann einmal treffen zu einer interessanten und vor allem auch inspirierenden, tröstenden Geschichte zu verweben. Auch gesellschaftliche Entwicklungen werden nicht außen vorgelassen. Wie die einzelnen Personen Situationen erinnern oder erleben zeigt die Komplexität menschlichen Daseins, ohne zu werten. Dabei baut sie den Spannungsbogen immer weiter auf und lässt alles zum Ende hin kulminieren, ohne dieses aufgesetzt wirken zu lassen.

Sein wer man ist – manche Menschen, wie Abby, setzen das einfach instinktiv um. Andere werden damit konfrontiert, dass sie andere Wurzeln haben, als sie Jahrzehnte lang glaubten und wieder andere finden zu ihrem Selbst zurück. Starke Figuren, autonom handelnde Frauen sind es, die Brodeur geschaffen hat. Die Männer kommen dabei nicht unbedingt sehr gut weg, werden aber in ihrer Verletztlichkeit gezeigt und sind letztendlich fähig, sich zu verändern. Ein Ideal ohne Kitsch, manchmal ist Leben Arbeit, die sich lohnt, um Authentizität auf Augenhöhe zu erlangen und damit einen neu gewonnenen Reichtum..

Große Leseempfehlung für diesen Roman, der rundum sehr gelungen ist. Unbedingt Lesen – ein literarischer Kurzurlaub auf Cape Cod ist garantiert. Und unbedingt den Song von Jon Batiste anhören, der für mich die Figur der Abby perfekt musikalisch einfängt.

Treibgut von Adrienne Brodeur, übersetzt von Karen Witthuhn, ist im April 2024 als Hardcover im Kindler Verlag erschienen. Für mehr Informationen zum Buch durch Doppelklick auf das im Beitrag abgebildete Cover oder auf der Verlagsseite.

4 Gedanken zu “Sisterhood

  1. Was für eine wundervolle Buchbesprechung- so schön geschrieben und mit dem Song verknüpft- großes Kopfkino- wollte das erst heute abend lesen, aber dein Text hat mich so „reingezogen“ und neugierig gemacht, schön! Herzlichen Dank, ich habe es sofort bestellt!

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  2. Ganz genau, werde wer du bist, denn etwas anderes kannst du nicht sein. Es gibt kein richtiges Leben im falschen, da hatte Adorno recht. LG, Bri

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  3. Danke, Bri, für Deine Buchvorstellung zu diesem Familienroman, die Überlegungen zu den Rollen von Frauen und Männern sowie den zitierten und gelinkten Song. „Sein wer man frau ist“ spricht mich persönlich und philosophisch an: „Werde, der du bist“. Herzliche Grüße aus Nürnberg von Bernd

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