Kennt ihr das? Wenn Bücher einem den Zugang verwehren und es knarzt und knirscht im Leserhythmus, die Figuren erwachen nicht zum Leben? Man muss sich fragen, wer denn jetzt dieser Charakter wieder war, in welchem Zusammenhang er zu den anderen steht usw. So auch im vorliegenden Buch, das ich nach knapp 70 Seiten erst einmal für ein paar Wochen zur Seite legte.
Beim zweiten Versuch zog mich die teilweise raue mystische Aura in den Bann, auch wenn der Schreibstil sehr gewöhnungsbedürftig ist. Phasenweise haben mich die Beschreibungen gefesselt und ließen etwas von der schwülen Atmosphäre erahnen, in der die Geschichte spielt.
Leonie ist eine Schwarze und hat zwei Kinder, Jojo und Kayla. Sie kümmert sich kaum um ihre Kinder, wohnt noch bei ihren Eltern und geht sehr schlampig mit ihrem Leben um. Kein Ziel, willkürlich treibt sie durchs Leben, meist werden die Stunden mit Drogen und Alkohol ausgefüllt. Bezug zu ihren Kindern hat sie nicht, diese haben mehr Bezug zu ihren Großeltern. Die Großmutter ist unheilbar an Krebs erkrankt und siecht in ihrem Bett dahin.
Pop der Großvater versucht zu helfen, wo er kann. Doch die Zeit und das Leben nagen an ihm.
„Hier auf dem Land aufzuwachsen, hat mich einiges gelehrt. Zum Beispiel, dass nach dem ersten großen Überschwang des Lebens die Zeit an allem nagt: Sie lässt Maschinen rosten, Tiere so altern, dass sie Fell und Federn verlieren, sie lässt Pflanzen welken. Etwa einmal im Jahr sehe ich es auch bei Pop, sehe, wie er mit den Jahren immer schlanker wird, wie die Sehnen hervortreten und mit jedem Jahr fester und steifer werden. Wie seine indianischen Wangenknochen hervortreten.“
Leonies weißer Freund Michael wird aus Parchmann, einem Gefängnis, entlassen. Sie packt ihre Freundin und ihre beiden Kinder ein, um ihn abzuholen. In Parchmann war auch ihr Vater Pop und hatte dort einen Freund, Richie, den er aber nicht vor dem gewaltsamen Tod retten konnte. Dieser Freund erscheint Jojo dem dreizehnjährigen Jungen auf der Reise, und erzählt ihm seine Geschichte. Auch Leonies tote Bruder taucht in Kapiteln auf, ein Trauma, dass Leonie noch nicht überwunden hat.
Gedanken über das Leben, die Liebe und Freundschaft durchdringen die Gedanken von Jojo und Leonie, garniert mit der aufreibenden Autofahrt durch eine mystische Landschaft des Südens. Die Sprache von Jesmy Ward stolpert, hakt sich fest, treibt einem Schweiß auf die Stirn. Es gibt keinen Fluss des Lesens, so wie es keinen Antrieb der Figuren gibt. Es ist ein Durcheinander an springenden Gedanken und reagierenden Aktionen. Doch manchmal klärt sich der Wort-Dschungel.
„Es gibt Sachen, die einen Mann bewegen. Wie innerliche Wasserströme. Sachen, für die er nichts kann. Je älter ich wurde, desto mehr schien mir das zuzutreffen. Was Stag in sich hat, ist Wasser, das so schwarz und tief ist, dass man den Grund nicht sieht. Stag lachte jetzt. Aber dann sagte Pop: Parchmann hat mir das Gleiche in mir selbst gezeigt, Philomene. Ein paar Tage verstand ich, was er damit sagen wollte, nämlich dass erwachsen werden bedeutet, zu lernen, wie man durch diese Ströme durchkommt: wann man sich festhalten muss, wann man den Anker werfen soll, wann man sich am besten mitreißen lässt.“
Es gibt durchaus Momente, die mich sehr packen und in den Bann ziehen, wie z.B. die Erzählung der Drogenerlebnisse von Leonie und Michael. Dann verwirrt mich die Autorin mit ihrem nicht linearen Stil. Besonders die Kapitel um den toten Richie und Given (den Bruder von Leonie), die ihre Vergangenheit erzählen, strengen mich als Leser an. Jesmyn Ward lässt die Geister der Vergangenheit aufleben, sie erscheinen den Protagonisten fast leibhaftig und sprechen zu Ihnen. Dazu kommt der schwüle Süden Amerikas, die mystische Atmosphäre der Natur, die knorrigen Bäume die Schauderhaftes gesehen haben und die fieberhaften Drogenerlebnisse der Charaktere.
Kein einfaches Leseerlebnis, besonders an den Stil musste ich mich gewöhnen. Doch wird der Leser mit viel Stimmung und Atmosphäre belohnt. Für mich eine ambivalente Lesefreude.
Singt, ihr Lebenden, und ihr Toten singt von Jesmyn Ward ist 2019 im Verlag Antje Kunstmann als gebundene Ausgabe erschienen. Nähere Infos zum Buch über einen Klick auf das Cover im Beitrag oder auf der Verlagsseite.