Das letzte Band

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Hätte man mich vor ungefähr einem Jahr nach dem berühmten Inselbuch gefragt, hätte ich geantwortet: DAS Buch gibt es nicht. Es sind viele. Ich kann doch nicht einfach etwas weglassen. Heute, um eine grandiose Leseerfahrung reicher, vor der ich mich lange wirklich gedrückt habe, kann ich sagen, es gibt es doch. Bei Piper ist es erschienen und eigentlich ist es nicht ein Buch, sondern ein Zyklus aus fünf großartigen Büchern. Der Autor hat in diesen fünf Büchern seine eigene Geschichte, die auch die Geschichte eines Missbrauchs im Kindesalter ist, nicht nur verarbeitet, sondern in Kunst umgewandelt. Edward St. Aubyn hat mit seinem Melrose Zyklus alles eingefangen, was das Leben bieten kann und was es manchmal unerträglich macht. Und dennoch hat er nicht sich selbst in den Mittelpunkt gestellt, sondern uns alle. Mit unseren Ängsten, Träumen und Wünschen und mit der manchmal nicht erahnten, aber dennoch vorhandenen Kraft, sich quasi wie Baron Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf des Lebens zu ziehen, wenn es sonst nicht weitergeht.

Was mich an den einzelnen Büchern so sehr begeistert hat, weshalb ich Edward St. Aubyn mittlerweile wirklich verehre, das könnt ihr, wenn ihr wollt, hier erfahren. In engem Rhythmus möchte ich euch die einzelnen Bücher so vorstellen, wie ich sie gelesen habe, nicht ganz in der ursprünglichen Reihenfolge ihres Erscheinens, aber erstaunlicherweise in der Reihenfolge, in der sie auch in der zu Recht hochgelobten Serie „Melrose“ visuell umgesetzt wurden. Beginnen wir also mit Band zwei des Melrose Zyklus:

Schlechte Neuigkeiten

Patrick Melrose, 21, aus reichem Haus, Spross einer der englischen High-Society-Familien, lebt in London als er per Telefon vom Tod seines Vaters erfährt. Ein alter Freund des Vaters überbringt die Schlechte Neuigkeit, die, wenn man Patricks Kindheit kennt, nicht wirklich so schlecht ist, wie sie sich für Außenstehende anhören mag.

Patrick legte die Spritze, die er gerade ausgespült hatte, aus der Hand und blieb reglos neben dem Telefon sitzen. Waren das wirklich schlechte Neuigkeiten? Vielleicht brauchte er ja all seine Kraft, um nicht auf offener Straße zu tanzen und dabei breit zu grinsen. Sonnenlicht fiel durch die dreckverkrusteten Fenster in seine Wohnung in Ennismore Gardens. Draußen, auf der Straße, waren die Blätter der Platanen schmerzhaft bunt.
Plötzlich sprang er auf. »So leicht kommst du mir nicht davon!« murmelte er rachsüchtig. Der Hemdsärmel rutschte ihm etwas herunter und sog ein Rinnsal aus Blut auf.

Patrick ist seit seinem 16 Lebenjahr drogenabhängig, geht keiner geregelten Tätigkeit nach, wird in regelmäßigen Abständen von Selbstmordgedanken geplagt und hasst seinen Vater abgrundtief. Für all das gibt es Gründe, die durchaus triftig zu nennen sind. Manchmal spielt einem das Leben eben so übel mit, dass man keine andere Möglichkeit hat, als sich davon abzuspalten. Und genau das ist es, was Patrick tut. Doch nun ist der verhasste Vater tot. Und Patrick nimmt den nächsten Flieger nach New York, um die sterblichen Überreste nach England zu überführen. Und um sich zu vergewissern, dass alles kein schlechter Witz oder ein guter Traum war.

Was nach dem Anruf folgt, ist ein unglaublicher Trip und das im wahrsten Sinn des Wortes, denn Patrick kann seiner vielfältigen Drogensucht natürlich nicht einfach ad hoc entsagen. In New York angekommen gibt es also einiges zu regeln, was nicht unbedingt direkt etwas mit dem Toten zu tun hat. Außerdem trifft Patrick sich mit einer alten Freundin der Familie, die immer noch Schuldgefühle ihm gegenüber hat, da sie dem kleinen Jungen, der offensichtlich sehr in Not war, vor Jahren nicht so sehr geholfen hat, wie sie es hätte tun müssen. Die Begegnung mit Anne ist einesteils wohltuend, weil sie Patrick gut kennt und seinen Lebenswandel nicht verurteilt, andererseits aber kommt es durchaus zu der ein oder anderen grotesken Situation, wie auch während des ganzen zwar nur kurzen aber doch sehr intensiven Aufenthalts in New York.

»Hast Du Deinen Vater schon gesehen?«, fragte sie geradeheraus. »Allerdings« sagte Patrick, ohne zu zögern. »Ich fand, dass er sich da in dem Sarg sehr gut machte – er war viel weniger schwierig als sonst.« Er grinste sie entwaffnend an.

Und genau so kam die Figur Patrick Melrose bei mir an – entwaffnend. Es gibt sicherlich genügend Bücher, in denen die Drogensucht einer oder mehrerer Hauptprotagonisten das Kernthema bilden. Doch meist bleiben die tatsächlichen Gründe für die Sucht entweder eher im Dunkel oder werden als Entschuldigung für das selbstzerstörerische Tun angeführt. Obwohl alles, was Edward St. Aubyn in seinem grandiosen Melrose Zyklus niedergelegt hat, biographische Züge trägt, ist diese Tatsache nicht das tragende Element seiner fünf Romane. Gewisse Rauschzustände muss man sicherlich selbst erlebt haben, um sie so detailliert und authentisch in Worte fassen zu können, wie es St. Aubyn vermag. Eine derart scharfe Analyse der eigenen Befindlichkeiten, ohne das Eigene in den Vordergrund zu stellen, ist wahre Kunst. Das ist weder Befindlichkeitsliteratur, noch zum Zwecke der Eigentherapie entstanden. Auch wenn es eine gewisse therapeutische Wirkung auf den Autor hatte, wie er in einem Interview sagte. Aber auch viel Kraft abverlangte. Gerade wenn er sich gewisse Situationen ins Gedächtnis zurückrufen musste, um dem damaligen Gefühl nachzuforschen, endete er nicht selten nach einem fertiggestellten Kapitel zitternd auf dem Boden seines Arbeitszimmers. Und das wohlgemerkt nicht, weil er noch drogenabhängig gewesen wäre. Wie Patrick hatte sich Edward St. Aubyn auf dem Weg von New York zurück nach London, die Urne mit den sterblichen Überresten des Vaters im Gepäck, dazu entschlossen, den Drogen den Rücken zu kehren.

Trotz all der Schwere der Ereignisse ist Schlechte Neuigkeiten ein herzzerreißend ehrliches, äußerst amüsantes und vor allem mehr als kluges Buch. Hier wird nichts geschönt. Die Abstürze im Heroinrausch, die Verzweiflung, aber auch die urkomischen Situationen, die durch die Einnahme von eigentlich kontraindizierten Drogen entstehen, kombiniert mit der sprachlichen Meisterschaft eines durchaus gebildeten Mannes der englischen Upper-Class ergeben ein Werk, das die Leserschaft süchtig zurücklässt. Und tiefe Einblicke in eine verletzte Seele gibt, ohne Gejammere, ohne den Anspruch, Absolution erteilt zu bekommen. Einzig mit dem Ziel, das Unaussprechliche ertragbar zu machen, nicht länger zu schweigen. Und das in einer Art und Weise, die bei den Leser*innen keine schlechten Gefühle aufkommen lässt, denn auch wenn Patrick Melrose ein richtiges Arschloch sein kann, so ist er das, weil er die schweren Verletzungen seiner Kindheit nicht vergessen hat. Dass er sich anschickt, damit klar zu kommen, das ist sein Verdienst und dafür gebührt ihm großer Respekt.

Die Hintergründe zu Patricks exzessivem, durch Drogen bestimmten Leben zeigen sich im ersten Band der Saga: Schöne Verhältnisse. Wie Edward St. Aubyn es geschafft hat, die eigenen Kindheitserlebnisse in Literatur zu verwandeln, das erfahrt ihr in ein paar Tagen hier. Ich freue mich sehr, wenn ihr den Weg mit mir weiter gehen wollt und noch mehr, wenn dieser euch dann schlußendlich in die Buchhandlung eures Vertrauens führen sollte. Denn St. Aubyn sagt selbst, seine Befreiung fand nicht durch das Schreiben statt, sondern dadurch, dass seine Bücher gelesen werden.

3 Gedanken zu “Das letzte Band

  1. Pingback: Never mind | Feiner reiner Buchstoff

  2. Nee, Du das ist äußerst amüsant verarbeitet, klar, schon schwere Kost … der erste Band, den ich ja auch erst nicht lesen wollte und der mich davon abgehalten hat, besitzt aber so eine klare, scharfsichtige Analyse, dessen, was in der Upper-Class-Gesellschaft Englands passiert, dass man ihn schon lesen muss. Mach es wie ich, steig mit dem zweiten ein. Er ist sprachlich einfach großartig. Aber ich stelle jetzt nach und nach – alle vier Tage – hier alle einzelnen Bände vor. Kannst ja noch überlegen. Manchmal muss man trotz allem einfach laut lachen. LG, Bri

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  3. Ich schleiche schon seit „Der beste Roman des Jahres“ um die Melrose-Reihe herum, weil ich seine Art zu schreiben mag. Ich habe nur nach wie vor die Befürchtung, dabei könnte es sich um etwas schwer verdauliche Kost handeln, für die man in der entsprechenden Stimmung sein muss, damit sie einen nicht vollends runterzieht. Also nicht gerade das, was Herbstliteratur für mich sein sollte. 🙂 Aber wir werden sehen, ich werde es ja erfahren. 🙂

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