Emotionen sind der Japanerin Keiko Furukura unheimlich. Empathie ist ein Fremdwort für sie. Alles, was die Frau an emotionalem Repertoire auf Lager hat, ist antrainiert, nie gefühlt. Sprache nimmt sie als das, was es ist: ein Sammelsurium an einzelnen Wörtern. Sie anders als „wortwörtlich“ zu interpretieren, ist ihr unmöglich.
Bereits als Kind merkt sie die Unterschiede zu anderen Gleichaltrigen. Als sie als Kindergartenkind im Park einen toten Vogel fand, begannen alle anderen zu weinen – nur sie nicht.
„Keiko, was ist denn? Ach, ein Vögelchen … Es ist wohl jemandem davongeflogen. Das Ärmste! Wollen wir es begraben?“, sagte sie und strich mir liebevoll übers Haar.
„Lieber essen“, sagte ich.
„Wie bitte?“
„Papa mag doch Hähnchenspieße so gern. Wir können den kleinen Vogel heute Abend braten“, erklärte ich noch einmal deutlicher, weil ich glaubte, sie habe mich nicht verstanden. Meine Mutter wirkte bestürzt, und auch die anderen Mütter rissen entgeistert Augen und Mund auf.“
Keiko selbst leidet – dank der fehlenden Gefühle – kein bisschen unter ihrem Anderssein. Doch sie bemerkt, so viel Gespür besitzt sie dann doch, dass ihre Schwester und ihre Eltern damit sehr schlecht klar kommen. Also versucht sie, sich aus den allermeisten Situationen, in denen sie mit anderen Menschen interaktiv sein müsste, herauszuhalten. Sie lebt isoliert und beobachtet viel. Klug ist sie, auf eine sehr strukturierte, einseitige Art – daher geht sie, als sie die Schule beendet hat, auch auf die Uni. Als sie sich eines Tages auf dem Weg zum Institut verläuft, fällt ihr ein 24-Stunden-Supermarkt auf, ein Konbini, ein sogenannter Convenience Store, der demnächst eröffnet werden soll. Es werden Aushilfen gesucht – und Zeit genug für einen Nebenjob hat sie aus Mangel an Freunden ja. Also bewirbt sie sich und wird genommen.
Keiko erlebt eine Initialzündung. Nicht eine Persönlichkeit ist hier gefragt, sondern lediglich die Fähigkeit, exakt die Anweisungen des Vorgesetzten auszuführen. Sie muss nicht selbst entscheiden, wie sie sich in bestimmten Momenten zu verhalten hat, nein! Für alle Situationen gibt es einen Leitfaden, die gewünschte Art der Kommunikation ist durch die Ladenkette genau vorgegeben. Individualität? Nein, danke! Keiko fühlt sich wie im Himmel. Sie geht völlig auf in ihrer Rolle als zukünftige Verkäuferin, eignet sich Stimmlage und Modulation des Schulungsleiters an und schaut sich akribisch die Schulungsvideos. Findet sie eine Kollegin besonders tüchtig, kopiert sie deren Art und wird so nach und nach zur perfekten Mitarbeiterin. Endlich etwas, worin sie ein wahres Talent ist! Und so ist es nur zu gut zu verstehen, was sie denkt:
„Mein erster Tag im Konbini war mein Geburtstag als normales Mitglied in der Gesellschaft.“
18 Jahre ist dies mittlerweile her. Vorgesetzte kamen und gingen – Keiko blieb. Die anfängliche Freude ihrer Eltern über ihren angeblichen Einstieg in die Normalität hat einer gewissen Ratlosigkeit Platz gemacht. Warum um alles in der Welt hat die verschrobene, aber ja clevere Keiko diesen Nebenjob nicht längst beendet? Warum hat sie nicht eine richtige, gut bezahlte Stelle gesucht und dann geheiratet? Sie scheint doch nun zu wissen, wie man sich in der Gesellschaft bewegen muss …
Doch in Wirklichkeit weiß sie das noch immer nicht. Nur in ihrem Mini-Orbit „Konbini“ fühlt sie sich sicher, jeder Situation gewachsen. Ab und an trifft sie sich mit alten Schulkameradinnen, die sie bei einem Klassentreffen wiedergetroffen hat und die begeistert sind, dass Keiko so viel offener geworden ist seit der Schulzeit. So spannend Keiko diese losen Verabredungen als „Feldforschung“ findet, es strengt sie doch ungemein an, sich außerhalb des Konbini zu bewegen. Kein Skript, kein Leitfaden, ungeahnte Fragen – wie soll sie darauf antworten? Zudem häufen sich mit den Jahren die unangenehmen Nachfragen nach einem Freund, Mann und … nach Kindern!
Und dann tritt eines Tages ein neuer Mitarbeiter über die Schwelle des Marktes und bringt Keikos strukturiertes Dasein enorm ins Wanken. Shiraha heißt der Neue, er ist weder sympathisch noch gut, weder gutaussehend noch charmant. Die Stimmung im Supermarkt verändert sich und Shiraha wird wieder gefeuert und doch scheint es, als wolle das Schicksal Shiraha einen besonderen Platz in Keikos Leben einräumen. Über abstruse Umwege kommt es dazu, dass er bei ihr einzieht. Das klingt romantischer als es ist:
„Gut, solange du kein Einkommen hast, geht es sowieso nicht anders. Außerdem bin ich selber knapp bei Kasse, also käme eine Bezahlung nicht in Frage, aber Futter gebe ich dir, wenn du es isst.“
„Futter?“
„Entschuldige. Ich habe zum ersten Mal ein Lebewesen bei mir. Mir ist, als hätte ich ein Haustier.“
Keiko bleibt eben Keiko – Gefühle sind ihr fremd. Und so währt auch die Freude ihrer Schwester nicht lange, als sie merkt, dass in dieser merkwürdigen Beziehung Keikos zu diesem Mann nichts so ist, wie es sein sollte …
Sayaka Murata beschreibt äußerst lakonisch die beengte, festgefahrene Welt der gefühllosen Keiko. Dass dies ein japanischer Roman ist, ist überall zu spüren. Die fremde Denkwelt, die Mentalität und Gesellschaft werden in jedem Abschnitt des Textes fühlbar. Mit großem inneren Abstand zu ihrer Hauptperson beschreibt die Autorin deren Leben. Ein Sich-hineindenken in die Protagonisten kommt dadurch nicht zustande, ist aber sicherlich auch nicht beabsichtigt. Diese Distanz gehört zum Buch, verstärkt die Eigenwilligkeit der Protagonistin, unterbindet aber auch eine große Leidenschaft. Kann ich mich nicht mit den dargestellten Personen identifizieren oder zumindest „verbünden“, bleibe ich außen vor, bleibe unbeteiligter Beobachter. Habe ich bei „Eleanor Oliphant“, einer anderen wenig angepassten Romanheldin, deren emotionales Spektrum ebenfalls deutlich limitiert ist, von A-Z mitgelitten und mitgefühlt, bin ich hier nur Konsument eines guten, aber sterilen Textes. Ein Text, so klar und schnörkellos wie ein Convenience Store, so sauber und irgendwie unwirklich.
Die Ladenhüterin von Sayaka Murata ist 2018 im Aufbau Verlag erschienen. Weitere Informationen über einen Klick auf das im Beitrag abgebildete Cover oder auf der Verlagsseite.