Die Wut geht in die zweite Runde. Der erste Band über das Leben des Vernon Subutex, in dem pro Seite gefühlte drei Brandbomben geworfen wurden, erfährt eine Fortsetzung. Die Brandbomben auf die Gesellschaft werden immer noch geworfen und sind messerscharf und voller scharfer Glassplitter, die tief in einen eindringen. Aber das Hauptaugenmerk liegt auf den einzelnen Biographien der Mitwirkenden.
Wie im ersten Buch sind die einzelnen Kapitel aus der Sicht der beteiligten Charaktere geschrieben. Wobei jedes Kapitel eine Art Kurzbiographie des Erzählenden darstellt. Die Verbindungen zu den nächsten Kapiteln ergeben sich dann aus der Handlung. Das nächste Kapitel wird aus der Sicht eines der Beteiligten des gerade Erzählenden weiter geführt.
Vernon Subutex und die Kassetten des letzten Interviews des verstorbenen Alex Bleach stehen dabei im Vordergrund. Dabei finden sich in Paris nach und nach alle Personen, die irgendwie in die Geschichte dieser Kassetten oder die von Vernon Subutex eingebunden sind. Es kristallisieren sich Freundschaften und gemeinsame Wege aus ihren Begegnungen heraus.
Gibt es, im Vergleich zum ersten Buch, noch Überraschungen und neue Aspekte? Despentes ist nicht mehr so brachial wie im ersten Band, aber die Sätze bergen eine innere Kraft, die sich etwas subtiler, aber dennoch markig ihren Weg bahnt.
„Er hat eine schöne Wohnung, seine Sachen sind gepflegt, seine Frau ist bei ihm geblieben, er hat eine Tochter und Geld, um sich schöne Ferien zu leisten. Aber er ist frustriert. Sein Humor ist derselbe wie früher, nur weniger lebendig, und an die Stelle der einstigen Wut ist Resignation getreten. Emilie hat gelesen, dass Frauen im Gefängnis weniger leiden als Männer, weil sie sich über die Jahrhundert hinweg daran gewöhnt haben, eingesperrt, überwacht, eingeschränkt, bestraft und ihrer Freiheit beraubt zu werden. Sie haben es zwar nicht im Blut, aber es ist ihr Erbe.“
Vernon ist auf der Straße und erlebt den vollkommenen Abstieg. Den sozialen und körperlichen. Das Leben im Park wird für ihn zu einer neuen Erfahrung. Das Leben dort hat andere Rhythmen als das bürgerliche Leben und birgt auch einige Überraschungen. Der körperliche Verfall ist ohne hygienische Möglichkeiten schwer aufzuhalten.
„Vernon konnte den Blick nicht von ihren Füßen lösen. Er dachte an seinen geschwollenen Finger und fragte sich: Wie lange, bis man dahinterkommt? Wie lange bis man überhaupt nicht mehr dem ähnelt, der man mal gewesen ist? Er verspürte keinerlei Wehmut wegen seiner sozialen Identität, deren Umrisse und Anforderungen ihm völlig absurd vorkamen, aber noch schreckte ihn die Aussicht auf den Niedergang seines Körpers. Er hatte also noch ein Stück Weg vor sich bis zur völligen Resignation.“
Die große Stärke von Despentes sind ihre unbändige Wut und Energie. Und die Eigenschaft hinter diese kapitalistische, menschenfeindliche Gesellschaft zu schauen. Das tut sie mit erschreckenden Bildern, die einem im Kopf bleiben und erkennen lassen, wie menschenverachtend und ungerührt und unbarmherzig unsere Gesellschaft geworden ist und wie nah sie an der Kante zu weiteren Schreckenstaten steht.
„Du passt dich an, aber eigentlich beugst du dich. Anpassungsfähigkeit ist an sich nichts Schlechtes. Alles hängt von dem System ab, dem du dich anpasst, von dem, was es verlangt. Aus Gehorsam wird bald die Fähigkeit, den Kopf abzuwenden, wenn du am Schlachthof vorbeikommst … hast du darüber schon mal nachgedacht, Vernon? Wie viele menschliche Einheiten könnte man an einem Tag vernichten, so modern, wie die Fleischfabriken heutzutage sind? Und erzähl mir nicht, an dem Tag, wo jemand die Hightech-Beseitigung von Menschenkörpern an Illegalen und Obdachlosen ausprobiert, wird man mit alldem aufhören und sagen, das sei unerträglich.“
Neben diesen guten Gedanken und geschliffenen Sätzen kann Despentes aber auch bitterböse und kurz sein. Sprüche für bestimmte Momente, die man sich merken muss, wie „Ich bin nicht monogam, das ist was für Hässliche.“
Auch den zweiten Band empfand ich als eine herrliche und angenehm direkte Leseerfahrung. Schön, die Anfangs im Buch kurz beschriebenen Charaktere auf die ich doch gerne zurückgegriffen habe. Ich freue mich auf den dritten Band.
Buchdetails:
- Aktuelle Ausgabe : 15. Februar 2018
- Verlag : Kiepenheuer & Witsch
- ISBN: 978-3-462-05098-1
- Gebunden: 400 Seiten
Ja, ich glaube auch – ich fange demnächst mir Vernon – nachzügelnd an, habe aber schon mal angelesen und das ist richtig gut.
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Die Frau kann einfach schreiben.
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