Dem kleinen Verlag „edition bücherlese“ ist ein großer Coup gelungen. Erst 2012 wurde er von Judith Kaufmann in Hitzkirch in der Zentralschweiz ins Leben gerufen. Drei neue Titel gibt es im derzeitigen Herbstprogramm – nur, um mal ein Gefühl für die Größe des kleinen Unternehmens zu vermitteln. Doch einer der Frühjahrstitel von 2017 hat sich nun in das Bewusstsein der Öffentlichkeit katapultiert, denn er ist auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises gelandet: Knochenlieder von Martina Clavadetscher.
Schon das Cover ist ein echter Hingucker, mit dem übergroßen Insektenkörper in knalligem Blau und Rot. Und es bleibt so spannend, wenn man das Buch öffnet, denn da ist es dann der Satz, der sich von der Norm absetzt. Hier wird eingerückt, linksbündig gesetzt, zum Teil nur zwei, drei Worte nebeneinander, schon kommt der Zeilenumbruch. Gegen Ende, wenn das Knochenlied quasi gesungen wird, ist der Text gar zentriert und erinnert an einen Gedichtband.
Das Buch ist dreigeteilt: I. Stachelkind, II. Uzname, III. Knochenlied.
Die Geschichte startet 2020, sie ist – wie sollte es beim derzeitigen Trend auch anders sein – eine Dystopie. Doch düster startet es erstmal gar nicht, im Gegenteil. Wir begleiten die Familien Blau, Weiß, Rot und Grün bei ihrem einzigartigen Wohnprojekt. Sie leben abgeschieden in den Bergen, in einer geschützten Siedlung, und nur selten geht einer von ihnen, meist ist es Jakob Grün, hinab ins nächste Örtchen, wo es Autos gibt, Musik, Lebensmittel. Bewusst leben die vier Familien ohne direkte Anbindung an das moderne Leben, sie haben kein Fernsehen, kein Radio, selbstverständlich auch keine Smartphones oder ähnliche Medien. Nur Nahrungsmittel, die sie nicht selbst herstellen oder anbauen können, werden geholt und andere wichtige Dinge, die man als moderner Aussteiger nicht missen möchte, so auch Arzneimittel.
Doch wie das in jeder Gemeinschaft ist, es gibt immer welche, die interpretieren existierende Regeln etwas freier, andere wiederum sind regelkonformer. Zur letztgenannten Gruppe gehört eindeutig Sybille aus Haus Weiß. Als sie mitbekommt, dass Jakob Grün bei einer seiner Einkaufsaktionen aus dem Bergdorf Tabletten für seine Frau mitbringt, die dieser beim großen, (noch) unerfüllten Kinderwunsch helfen sollen, wird Sybille schnippisch und beleidigend:
Ihr lasst diesen Medizinstachel an euer Erb und Gut.
Ihr stecht euch die kranke Außenwelt in euer gesundes Fleisch.
Das hat nichts mit Natur zu tun.
Meiner Meinung nach.
Sybille nennt das noch nicht existierende Wesen „Stachelkind“. Als grob ein Jahr später Regina und Jakob Grün wirklich Eltern einer kleinen Rosa werden, verliert Frau Weiß die Beherrschung im allgemeinen Freudengejubel der anderen Familien.
Ein hübsches Stachelkind habt ihr euch da gezüchtet.
Ja, ein erfundenes, ein künstliches Gewächs.
Es passt nicht hierher. Es will raus und weg.
[…]
Ihr werdet schon sehen: Es ist zu schwach.
Eine Schürfung, eine Schramme,
ein Schnitt, ein Stich reichen aus,
und das Mädchen wird dir vor den Augen
verrecken, Jakob.
Jakob kann nicht mehr an sich halten. Er steht auf und gibt Sybille eine knallende Ohrfeige. Das Ende der Siedlung, so wie sie war, ist eingeleitet.
Wir begleiten die Farb-Familien über mehrere Jahrzehnte, es werden Zeitsprünge vollbracht. Nächste Szene: Rosa ist 13 Jahre alt. Fredy, der Sohn aus Haus Blau und der allerbeste Freund von Rosa, ist ein paar Jahre älter als sie und hat bereits einen Bescheid bekommen, er wird eingezogen, muss als Soldat zu einem Einsatz bei den Streitkräften.
Die Leere, die Fredy hinterlässt, als er zwangsläufig (und sehr ungern) aus der Siedlung fortgeht, will gefüllt werden. Rosa langweilt sich fürchterlich ohne ihn. Und so beschließt sie, gegen das ausdrückliche Verbot ihres Vaters, sich das leerstehende Haus der Familie Weiß genauer anzuschauen. Doch die Insekten waren schneller, sie haben sich bereits häuslich niedergelassen in den Räumen und beginnen sofort, diese zu verteidigen, als der Eindringling Rosa hereinkommt.
Rosa wird gestochen, einmal, zweimal, viele, viele Male. Sie erleidet einen allergischen Schock.
Dann wieder ein Zeitsprung, wir sind bei II. Uzname. Da musste ich doch erst mal nachschlagen, ob, und wenn ja, was das bedeutet! Uzname – Kosename. Ah! Nie vorher gehört. „Mäuschenmu“, das ist der Kosename. Pippa trägt ihn, die Tochter von Rosa. Doch Rosa ist fort, geflohen mit ihrem „All-areas-Pass“, denn wir befinden uns nun in einer apokalyptischen Version der Welt, alles gechipt, verwanzt, überwacht – schlicht, der Horror. „Mäuschenmu“ wird Pippa von ihrem ungeliebten Vater genannt und er trägt viel dazu bei, dass auch Pippa nur eins will: hier weg!
Ich muss zugeben, ab Teil II des Buches war ich verloren. Ich habe fast nur noch Bahnhof verstanden. Pippa ist Programmiererin, Hackerin – Fantasiebegriffe und merkwürdige Ausdrücke der PC-Welt, die mir nichts sagen, tauchen auf und verwirren mich. Am liebsten hätte ich aufgehört zu lesen. Stattdesssen habe ich überflogen, vieles erst recht nicht kapiert deshalb, wieder intensiver gelesen, als Kapitel III und damit das „Knochenlied“ begann. Das Aufeinandertreffen von Mutter und Tochter.
Endlich wieder normalere Sätze, Wörter, die ich verstehe!
Natürlich darf ich das Ende nicht vorwegnehmen, daher gibt es zu Teil III keine weiteren Angaben.
Um Teil II des Buches besser zu verstehen, begann ich, im Netz zu recherchieren. Ich wollte wissen, wie so ein Buch auf die Shortlist eines Buchpreises kommen kann – wo sich Teile davon mir so gar nicht erschließen! Und siehe da, ein paar erläuternde Worte und schon gibt es Aha-Momente! Besten Dank, ganz unbekannterweise, an Thilo von schraeglesen.de, ohne dessen erhellendes Autorengespräch und seine Hintergrundinformationen zum Buch ich wahrscheinlich frühzeitig aufgegeben hätte. Aber wenn man es dann weiß …! Wunderbar!
Schaut man mit dem neu erworbenen Wissen in den Text, wird vieles klar. Ich musste schmunzeln, dass ich nicht selbst auf so manche nahe liegende Assoziation gekommen war.
Lesen Sie also, bevor Sie womöglich zu früh aufgeben, die „Anleitung“ auf schraeglesen.de. Ich drücke dem sperrigen, aber spannenden Werk die Daumen, denn heute entscheidet sich in der Schweiz, ob es den Buchpreis bekommt oder nicht!*
* Gewonnen hat den Schweizer Buchpreis 2017 nicht „Knochenlieder“, sondern Jonas Lüscher mit „Kraft“.
Buchdetails:
- Aktuelle Ausgabe: 1. Auflage 2017
- Verlag: edition bücherlese
- ISBN: 978-3-906907-01-7
- Gebunden mit Schutzumschlag: 288 Seiten
Sehr schön 🙂 Viel Spaß damit!!
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Kommt auf die Wunschliste. Danke!
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