Salisbury – oder auch New Sarum – entwickelte sich als Stadt rund um einen Kathedralenbau, wie es klassischer nicht sein könnte. Schon Ken Follett hat dieses Beispiel in seinem Mega-Bestseller Die Säulen der Erde verarbeitet. Doch dort, wo die Kathedrale heute steht, stand sie nicht immer. Nachdem der erste Bau einer Kathedrale in Old Sarum abgebrannt war, baute man das Gotteshaus zwar zunächst an derselben Stelle wieder auf, doch da Old Sarum ursprünglich eine Garnison war und somit zwangsweise viel Militär beherbergte, das sich nicht optimal mit dem Klerus verstand, suchte der Bischof einen neuen Standort. Und so wurde die Kathedrale versetzt. Wie der neue Standort tatsächlich gefunden wurde, ist nicht verbrieft. Doch Geschichten sind es, die uns Menschen fast genauso lebenswichtig erscheinen, wie die Luft zum Atmen. Und so bildete sich um diese Leerstelle die Legende des Bischofs, der mit Pfeil und Bogen den neuen Standort seiner Kathedrale bestimmen wollte.
„Er war natürlich von der gleichen Großspurigkeit befallen, welche die meisten Männer lähmt. Als er den Pfeil abschoss, schob sich wie ihn daran zu erinnern, dass nicht er über die Welt zu einen Füssen zu bestimmen habe, nie hatte und auch nie haben werde, ein weißer Hirsch zwischen Pfeilspitze und Boden, und der Bischof beobachtete, vielleicht geknickt, sicherlich aber gebannt, wie der Pfeil in dessen Lende eindrang. Das entsetzte Tier lief noch fast fünf Kilometer weiter, bevor es mitten in einer Talaue verendete, südlich von Old Sarum, dort, wo jene fünf Flüsse sich trafen.
Nirgendwo wäre das Bauen beschwerlicher gewesen.“
Die Stelle an der der Hirsch starb und somit der Pfeil den neuen Standort markierte, hätte ungünstiger nicht sein können, wollte man dort ein großes Gebäude errichten. Zumal die Kathedrale den mit 123 Meter höchsten Kirchturm Englands bekommen sollte. Aber wenn Menschen sich etwas in den Kopf gesetzt haben, lassen sie sich häufig durch nichts mehr von ihrem Vorhaben abbringen. Und so steht die Kathedrale von Salisbury heute dort, wo fünf Flüsse zu einem werden.
„Die Kathedrale von Salisbury ist das schönste Gebäude, das ich kenne. Damit meine ich gar nicht so sehr ihr Aussehen. Gebäude sind nicht aufgrund ihrer Formgebung oder Strukturen schön, der Ziegel oder Steine, aus denen sie bestehen. Wodurch sie bestechen, das sind die Ideen, die Träume und Sehnsüchte, die sie einschließen.“
In ihrem Schatten ereignet sich ein Unfall, der zwei Menschen ganz direkt und drei weitere nur insofern betrifft, als sie dem Ereignis beiwohnen. Diese fünf Menschen lernen wir in Barney Norris Debutroman Hier treffen sich fünf Flüsse näher kennen und nach und nach wird klar, dass dieses Aufeinandertreffen der fünf Lebensflüsse nicht das erste ist …
Barney Norris ist ein Meister der Konzeption. Wie die Kathedrale von Old Sarum in New Sarum neu aufgebaut wurde, so erstellt Norris ein Gedankengebäude, dessen Zentrum die Idee der Verbundenheit darstellt. Die Idee setzt er um, indem er uns Leser die Punkte, an denen sich die fünf Beteiligten bereits trafen, früher erkennen lässt, als es die Protagonisten selbst tun. Das macht Spaß, das ist geschickt. Sprachlich beginnt er bestechend, dem Bau einer Kathedrale entsprechend, nur um die Schönheit, die man sich gerade eben erlesen hat, durch die alltägliche Härte und Schnoddrigkeit einer Frau zu ersetzen, die ihr Leben nicht auf Rosen gebettet verbrachte, obwohl sie letztendlich mit Blumen und Gras handelt. Ersteres öffentlich, zweiteres natürlich, weil strafbar, nur im Geheimen. Ihr Leben fiel früh auseinander und sie selbst hat sich wohl nie so recht davon erholt.
Neben der Gras dealenden Floristin lernen wir Sam kennen. Ein Teenager, der mehr als nur eine Sache mit sich trägt. Frisch verliebt, versucht er sich an Lyrik. Sein Vater, der ihm als Familienmitglied am nächsten steht, ist eher schweigsam aber anwesend. Unglücklicherweise aber ist er schwer erkrankt. Auch wenn er versucht, sich die Schwere seiner Krebserkrankung nicht anmerken zu lassen, ist klar, dass Sam seinen Vater verlieren wird. Er schwankt zwischen Glücksgefühlen und schlechtem Gewissen und das ist gerade für einen Teenager nicht einfach.
Ebenso wie Sam seinen Vater gehen lassen muss, geht es einem Farmer aus der Gegend, dessen Frau kürzlich verstarb. Hier erfahren wir, wie die beiden sich kennen lernten und ihr Leben miteinander verbrachten. Ein Einschnitt, der schwer zu verkraften ist und alles verändern wird. Die vierte Person, die in diesen Unfall mehr oder weniger „verwickelt“ ist, die Frau eines Soldaten, der sich im Feld befindet. Der gemeinsame Sohn besucht ein Internat und so fristet sie ihre Tage zwischen Beruf, Laienschauspiel und Tagebuch. Und dann gibt es noch den Turmwächter. Er, der alles aus der Höhe sieht, den Überblick hat, jedoch nicht auf sein eigenes Leben behalten kann, verwebt die Lebenswege der Protagonisten und füllt die Leerstellen, gerade so wie die Leserschaft es schon getan hat.
Jede dieser Stimmen ist ganz eigen. Einer habe ich besonders gerne gelauscht, eine brachte mich fast dazu, das Buch zur Seite zu legen.Aber so ist das eben: Manchmal muss man auch etwas aushalten können. Die Stärke dieses außergewöhnlichen Debutromans liegt für mich tatsächlich in der hintergründigen Verknüpfung der einzelnen Leben. Wie bei einem bunten Stoff stechen hie und da die einzelnen farbigen Fäden heraus, verbinden sich an manchen Stellen an einem Punkt und schaffen damit einen Blickfang, nur um auseinander zu gehen und später vielleicht wieder zusammen zu finden. Sprachlich beginnt das Buch ungemein schön und poetisch, die einzelnen Stimmen aber bringen große Variation mit sich. Aber Vielfalt ist es, die unsere Geschichten prägt und so ist es auch weiter nicht verwunderlich, dass die Wahrnehmung des eigenen Lebens häufig stark von der Außenwahrnehmung abweicht.
Barney Norris hat sich in Hier treffen sich fünf Flüsse einer wunderbaren und wie ich meine, wahren Idee angenommen. Kitsch, der ihm im letzten literarischen Quartett vorgeworfen wurde, konnte ich nicht finden, was daran liegen mag, dass ich alles im Zusammenhang betrachtet und nicht einzelne Sätze zerpflückt habe. Denn: Ein Ganzes ist doch immer viel mehr als seine Einzelteile.
„Im Schatten des Bauwerks erblühte Leben, eine Stadt, die man zunächst New Sarum nannte, bis sie schließlich unter dem Namen Salisbury bekannt wurde. Ereignisse von historischer Tragweite blitzten in den Straßen auf, Paare fanden sich, heirateten und wurden zusammen alt, es gab gute Ernten oder sie blieben aus, Falken nisteten im Turm, und wegen der Erfindung des Flugzeugs musste immer eine Glühbirne in der Turmspitze brennen, weshalb hin und wieder jemand hinaufklettern und sie auswechseln musste. […] Und immer war der Gesang zu hören. Fünf Flüsse flossen ineinander, und um das zu feiern, sang die Erde aus voller Kehle, eine Musik, die sich in den Kleinigkeiten des Alltäglichen versteckte, in den Schritten der Tausenden von Bewohnern, dem Klingeln der Registrierkassen, dem hoch aufragenden Traum des Turms.“
Buchdetails
- Aktuelle Ausgabe : 21. März 2017
- Verlag : DUMONT Buchverlag
- ISBN: 978-3-8321-9850-3
- Gebunden: 360 Seiten
Die Landschaft und die kleinen Dörfer in Wilthsire und Somerset sind wirklich idyllisch. Und die prähistorischen Denkmäler! Ich liebe die Region.
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Ja. Ich kann einiges an ihrer Argumentation nachvollziehen – das Buch hat sicher ein paar Schwächen. Es ist ein Debut … ich glaube, ich muss endlich mal was von Frau Dorn lesen 😉 Aber ich fühlte mich sehr angesprochen, sprachlich – und ich fand es noch nicht mal pathetisch. Aber das ist Geschmacksache. Frau Dorn fühlt das halt anders 😉
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Ich muss ja ehrlich zugeben, dass ich noch nie auf der Insel war – es ist also überfällig. Längstens. Und da wäre die Gegend, neben Cornwall, die erste Wahl. Über die Stadt selbst wird hier allerdings nicht so viel geschrieben, aber nichts desto trotz ist die Atmosphäre schon zu spüren, wie ich finde. LG
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Meine Lieblingsstadt in England. Edward Rutherfurd hat die Geschichte der Stadt in seinem Buch „Sarum“ verarbeitet – das Buch hat mich damals nach Salisbury gebracht 🙂
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Thea Dorn natürlich 🙂
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Ich konnte die harsche Kritik vor allem von Thea Dron auch keinesfalls nachvollziehen. Gefühlvoll – ja, stellenweise pathetisch – meinetwegen, aber gar nicht kitschig (schon gar nicht knietief 😦 ) LG, Petra
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Oha, interessant. Muss ich mir ansehen ;))) Danke für den Tipp.
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Vor vielen Jahren „Sarum“ von Edward Rutherford gelesen. Entdecke Ähnlichkeiten.
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Oh das freut mich – ich war nach dem literarischen Quartett etwas erbost über das harsche Urteil, weil ich tatsächlich nichts kitschiges gefunden habe … aber auch ich hatte einen kleinen Durchhänger. Dennoch: ich finde es wirklich großartig. In der Umsetzung hätte er vllt. noch etwas mehr rausholen können, aber das ist Kritik auf hohem Niveau 😉 Bin gespannt, wie es Dir gefallen wird. LG, Bri
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Hallo Bri,
Scheint ein interessantes Buch zu sein. Nach deiner Rezension habe ich es auf meine Want to read Liste gepackt.
Liebe Grüße,
Petra
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