Überleben allein ist unzureichend

Dystopien sind meist eine düstere Sache. In den dargestellten Endzeitszenarien, sterben erst die Menschen, dann die Hoffnung. Kriege, Hungersnöte, Misstrauen und Überlebenskämpfe prägen die untergegangene Welt. Dunkelheit und Hunger müssen bekämpft werden, die Überlebenden Menschen verfallen in Barbarei, die Kultur versinkt, die Errungenschaften der Zivilisation werden vergessen. Dass es nicht unbedingt so sein muss, zeigt uns Emily St.John Mandel in ihrer wundervollen, lichtdurchfluteten Dystopie Das Licht der letzten Tage.

Die Erinnerung an die Vergangenheit ist oftmals verklärt. Das erfahren wir des Öfteren, da wir uns größtenteils an positive Dinge der früheren Tage erinnern können. Viel lieber erinnern wollen. Dem Menschen ist eine wichtige Gabe gegeben: Dinge zu vergessen. Und viel lieber vergisst der Mensch negative Dinge. Das ist auch wichtig, denn die Summe der negativen Erfahrungen würde einem nach und nach die Lust am Leben vergraulen.

Pandemien sind ein realistisches Untergangsszenario. Denn noch schlechter als gegen Krieg und Hungersnöte, ist die Menschheit gegen eine tödliche Pandemie gerüstet. Sollte ein tödlicher Erreger auftreten, wäre dieser innerhalb von wenigen Tagen um die ganze Welt gereist. Ein Überleben wäre nur zufällig den Personen vorbehalten die in abgeschotteten Inseln die Pandemie überleben, oder die durch einen Abwehrmechanismus im Körper, zufällig dagegen gefeit sind. Die Auswahl wäre willkürlich und Schicht- und Altersübergreifend.

Im Licht der letzten Tage zeigt Emily St.John Mandel retrospektiv die letzten Tage aus Sicht verschiedener Menschen. Die Georgische Grippe reist um die Welt, nach einer Woche senden die Fernsehstationen nur noch Testbilder, nach zwei Wochen fällt die Elektrizität aus. Erst schauen die Menschen verzweifelt ihre leeren Smartphones an, dann blicken sie auf und sehen eine leere Welt. Die Zivilisation wie wir sie kennen, ist zerfallen.

„Es war vorbei mit Nationalstaaten, die Grenzen waren alle unbewacht. Es war vorbei mit der Feuerwehr, vorbei mit der Polizei. Es war vorbei mit Straßeninstandhaltungsarbeiten und Müllabfuhr. Es war vorbei mit Raketen, die aus Cape Canaveral, vom Baikonur Kosmodrom, Vom Vandenberg, Plessezk und Tanegashima aus starteten, um sich durch die Atmosphäre ihren Weg in den Weltraum zu brennen. Es war vorbei mit dem Internet. Es war vorbei mit den sozialen Netzwerken, es war vorbei damit, sich durch Litaneien von Träumen und nervösen Hoffnungen und Essensfotos zu scrollen, durch Hilfeschreie und Bekundungen von Zufriedenheit und Update des Beziehungsstatus, mit ganzen oder gebrochenen Herzen daneben, mit Plänen für spätere Treffen, Bitten Beschwerden, Wünschen, Bildern von Babys, die zu Halloween als Bärenverkleidet wurden. Es war vorbei damit, die Leben anderer zu lesen und zu kommentieren und sich dabei ein klein bisschen weniger einsam zu fühlen. Es war vorbei mit der Virtualität.“

Die Menschen sind wieder auf sich zurückgeworfen. Nach Jahren der Verirrung und der Verwirrung macht sich der Rest der Menschheit daran, etwas Neues aufzubauen. Die „Reisende Symphonie“ ist eine Gruppe von Musikanten und Schauspielern, die hauptsächlich Stücke von Shakespeare aufführen. Schon im ersten Kapitel werden wir Zeuge, wie der bekannte Schauspieler Arthur Leander an einem Herzinfarkt auf der Bühne stirbt , bei der Aufführung von King Lear – nur ein paar Tage vor Ausbruch der Grippe. Arthur Leander ist der Mittelpunkt des Buches. Alle dargestellten Menschen haben irgendetwas mit ihm zu tun – und irgendwie ist es auch Shakespeare der hier der heimliche Mittelpunkt ist. Shakespeare als Synonym für das Kreative, das Schöpferische im Menschen. Das Licht, das den Menschen durchleuchten kann.

Ungeachtet der Kämpfe und Toten zeigt uns die Autorin immer wieder das Licht, welches noch in der postapokalyptischen Welt oder in der Erinnerung leuchtet. DIe Welt ist zwar ohne Technologie und Medikamente schwieriger geworden und der Tod lauert an jeder Ecke, doch die Menschen bleiben menschlich. Ihr Handeln wird der Gradmesser für die neue Zivilisation. Die Vergangenheit wird verklärt, aber gerade die Verklärung dient als Hoffnung, die Welt wieder neu aufzubauen. Am schwersten haben es die Menschen, die die alte Welt noch besser kennen. Wie halten die Jüngeren diese neue Welt aus?

„Wir halten es aus, weil wir jünger waren als du, als das alles zu Ende ging, dachte Kirsten, wenn auch nicht jung genug, um uns an gar nichts mehr zu erinnern. Weil nicht mehr viel Zeit bleibt, weil die Dächer langsam, aber sicher alle einstürzen und bald keines dieser alten Gebäude mehr sicher sein wird. Weil wir immer noch nach der untergegangenen Welt suchen, bevor alle Spuren der untergegangenen Welt verloren sind.“

Auf einem verlassenen Flughafen wird ein Zivilisationsmuseum aufgebaut, eine Zeitung wird erstellt. Das Licht der Menschheit ist nicht erloschen. Am Ende werden Lichter durch ein Teleskop gesehen. Das Licht dient als Hoffnung, als Erwachen der Welt, vielleicht eine neue Welt in der vieles besser wird? Dieses Licht macht das Buch so besonders. Zwar ist unsere Zivilisation sehr verletzlich, aber es besteht immer noch der Wille und die Kraft wieder aufzustehen. Emily St.John Mandel hat eine verzaubernde Art zu schreiben und einen sehr eleganten und kultivierten Stil. Eine der schönsten und auch intelligentesten Dystopien die ich je gelesen habe.

Danke an Sabine für den Tipp, ihre Rezension zu lesen hier.

Buchdetails:

  • Aktuelle Ausgabe: 01.Februar 2017
  • Verlag: Piper
  • ISBN:  978-3-492-31023-9
  • Taschenbuch: 416 Seiten

5 Gedanken zu “Überleben allein ist unzureichend

  1. Selten habe ich ein Buch so oft zur Seite gelegt um über das gelesene, eigentlich das miterlebte, nachzudenken. Eine fesselnd erzählte, komplexe Geschichte über die Menschheit und die Unwichtigkeit ihrer sogenannten Zivilisation,die übermorgen schon war werden kann. Nein, nicht die Hoffnung stirbt, auch nicht zuletzt. Es wäre eher der Wille. Überleben allein ist unzureichend. Wie wahr.

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