1971 ereilt das Schicksal Lars Thorvald zum ersten Mal in Form einer gebrochenen Hüfte. Besagte Hüfte gehört allerdings nicht ihm, sondern Dorothy Seaborg aus Duluth, Minnesota, die auf dem Weg zu ihrem Briefkasten ausglitt und stürzte. Es war kurz vor Weihnachten und Dorothy traditionell zuständig, den Lutefisk für die Adventsessen der St. Olaf’s Lutheran Church zu produzieren. Eine nicht ganz angenehme Angelegenheit. Lars Vater, Gustaf Thorvald, Inhaber einer Bäckerei, verspricht der Gemeinde, dass die Familie Thorvald dafür sorgen werde, die Tradition des Lutefisk, dessen Hauptzutat “ … im Idealfall aussah wie gelierter Nebel und roch wie gekochtes Aquariumwasser“ nicht abreißen zu lassen. Keines der Familienmitglieder der Thorvalds hat Ahnung von der Zubereitung dieses norwegischen Traditionsgerichtes und nur der jüngste der Geschwister, der neunjährige Sigmund, mag es tatsächlich. So bleiben nur noch der 16 jährige Jarl und der 12 jährige Lars, um sich dieser Aufgabe zu widmen … Jahr für Jahr.
Man sollte meinen, solch ein einschneidendes Erlebnis, das für Lars auch noch Spöttereien und Zurückweisungen durch Klassenkameraden und andere Jugendliche bereithielt, hätte den Jungen davon abgebracht, sich weiterhin dem Kochen zu widmen. Doch das Gegenteil war der Fall. Vielleicht war es die echte Begeisterung der Gemeindemitglieder über die hervorragend zubereitete Speise, die ihn trotz seiner sehr guten Noten und damit der Aussicht auf einen Studienplatz, den Wunsch einpflanzte, Koch zu werden. So verlässt er Duluth, Minnesota, in Richtung Twin Cities und ergattert dort eine Anstellung in einem der angesagtesten Restaurants. Seine Liebe gehört zunächst frischen Zutaten – am liebsten alte Sorten, kein genmanipuliertes Zeug – bis er Cynthia kennen lernt. Cynthia besitzt ebenso eine Liebe zu den unterschiedlichsten Geschmacksrichtungen, allerdings spezialisiert sie sich dabei auf Rebsorten und Weine. Das Glück der beiden komplettiert ihre Tochter Eva … scheinbar.
J.Ryan Stradal ist selbst im mittleren Westen der USA aufgewachsen und weiß nicht nur um die Geheimnisse der Küche dort. Er kennt die Menschen und ihren Hang zur Verbundenheit. Hier schließen sich Kreise: was dort beginnt muss dort auch enden oder zumindest wieder hinführen. Und so ist es auch mit seiner wunderbaren und außergewöhnlich strukturierten Geschichte um Eva Thorvald, die Frau mit dem absoluten Geschmackssinn, die ihren Weg unbeirrbar verfolgt und zu einer international angesagten Köchin wird. Außergewöhnlich deshalb, weil Eva als Hauptperson des Romans selbst meist im Hintergrund bleibt und eher durch ihre Verbindungen zu den anderen Menschen, die uns Stradal in einzelnen Kapiteln genauer vorstellt, Kontur bekommt. Kaum zu glauben, aber es fuktioniert. Und das perfekt.
Denn obwohl Eva kaum im Mittelpunkt der Geschichte(n) steht, ist sie dennoch immer der Dreh- und Angelpunkt des Ganzen. Ihren Charakter zeichnet Stradal, indem er ihre Beziehungen zu anderen Menschen aufzeigt, die häufig sehr stark sein können, obwohl Eva selbst eine ungemein unabhängige Person ist. Eine Komposition, die das Buch spannend, unvorhersehbar, plastisch und authentisch wirkend gestaltet. Sprachlich bleibt Stradal immer genau in der Waage, was Ernsthaftigkeit und flotte Dialoge angeht.
Angereichert ist diese wunderbare, großartige Feel-Good-Geschichte – und Feel-Good ist hier im besten Sinne zu verstehen – durch dezente aber direkte Hinweise auf aktuelle Tagesthemen. Da wird von genmanipulierten Lebensmitteln, von Monsanto, dem Drang alles mit moderneren Zutaten und am besten vegan zuzubereiten genauso locker und angenehm gesprochen, wie von sozialen Härten. Überraschenderweise werden diese wichtigen Themen dadurch nicht herabgesetzt. Eher werfen die Einsprengsel so manchen Gedanken auf angenehme und unaufdringliche Weise an. Oberflächlichkeit ist hier nicht zu finden und trotzdem oder gerade deshalb fühlt sich die Geschichte so wahnsinnig gut und warm an.
Stradal scheint das Leben zu kennen und lässt Eva ihren eigenen Weg nicht ohne Hindernisse gehen. Eva jedoch lässt sich nicht beirren. Sie scheint immer genau zu wissen, was für sie das Richtige ist. Beneidenswert. Und sehr weise für das doch noch recht junge Alter, das Eva hat. Ihr Bauchgefühl ist offensichtlich immer richtig und sie hält sich nicht mit Konventionen oder Menschen auf, die ihr nicht gut tun, ohne verletzend zu werden. Stark, unabhängig und dennoch eingebunden wirkt sie. Das Ideal, das so manchem Leser vorschweben mag – so auch mir. Das berührt, ohne kitschig oder aufgesetzt zu sein.
Die Geheimnisse der Küche des mittleren Westens ist ein ganz besonderer Roman. Ein Buch, das man tatsächlich gelesen haben MUSS. Wer Williams Stoner, Butlers Shotgun Lovesongs oder Harbachs Kunst des Feldspiels mag, der wird hier etwas finden, was komplett anders ist und doch gleich: Same same but different. Ein wunderbares Buch, dessen Cover nicht passender gestaltet sein könnte – spätestens, wenn die Geschichte, viel zu schnell gelesen, mit einem leisen Bedauern, dass alles schon zu Ende ist und einem Lächeln, dass alles perfekt ist, wie es eben ist, zugeklappt wird, erkennt man die Zusammenhänge auch dort … und möchte am liebsten gleich wieder von vorne los lesen. Eva und ihre Entourage bleiben in Erinnerung und zwar nur in allerbester!
Buchdetails
- Aktuelle Ausgabe : 24. August 2016
- Verlag : Diogenes
- ISBN: 978-3-257-60773-4
- Gebunden: 432 Seiten
auf jeden Fall – bin gespannt, wie es gefällt. Ist ja doch immer Geschmackssache, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es nicht gefällt 😉
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Das kommt gleich in den Feel-Good-Vorrat für die dunklen Monate 🙂
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Wobei entspannend hier nicht heißt, dass es flach wäre … ich kann es schwer in Worte fassen. Ihr müsst das selber lesen und am besten darüber berichten 😉
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Ja, nach Thomas Wolfe „Es führt kein Weg zurück“ werde ich was Entspannendes zu schätzen wissen.
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Oh sehr gerne. Ich bin in dem Buch versunken, ehrlich. Es war so erholsam, es zu lesen … tat einfach gut. Ich bin gespannt, wie es Dir gefällt!!
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Mir scheint, ich habe mal wieder einen Grund, der Buchhandlung meines Vertrauens einen Besuch abzustatten. Danke, für diese schöne und überzeugende Rezension.
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naja, ist gerade erst erschienen – aber es lohnt sich!!!
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hört sich toll an! Noch nie davon gehört!
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Ein wundervolles Buch. Ich liebe es. Kann mich deiner Einschätzung ungeteilt anschließen 😊
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