“ Willie Nelson hat einmal gesagt, es gibt Zeiten, da muss man einen Song schreiben oder ein Fenster eintreten. Die dritte Option ist, schätze ich, ein Buch zu schreiben.“
Matt Haig tritt keine Fenster ein und schreibt keine Songs, sondern Bücher. Der Grund dafür ist ein ganz existentieller. Mit 24 Jahren ereilte ihn etwas, das sich zwar schon angekündigt hatte, er jedoch konnte die Symptome nicht einordnen. Damals, auf Ibiza, war er Teil der Big-Party-Gemeinde gewesen. Doch nicht ursprünglich um zu feiern, sondern um zu arbeiten. Ein unregelmäßiges Leben, wenig Schlaf, viel Alkohol … das war sein Alltag. Bis zu dem Zeitpunkt, als sie kam, die mächtige Panikattacke. Diese gipfelte schlußendlich in einem kompletten Zusammenbruch und einer bis heute anhaltenden Depression. Zusammen mit seiner damaligen Freundin und heutigen Ehefrau verließ er Ibiza und fand zunächst Unterschlupf bei seinen Eltern …
Erst einmal geht es darum, die innere Unruhe, die bei einer Depression mit gleichzeitiger Angststörung allgegenwärtig ist, aufzulösen. Doch wie soll das gehen, wenn man nicht einmal mehr die einfachsten Dinge alleine erledigen kann. So lange Andrea bei Matt ist, ist alles einigermaßen erträglich. Von gut ist keine Rede. Ein Gang in den seit seiner Kindheit bekannten Supermarkt wird zur Höllenqual. Für Menschen, die solch eine Angst noch nie am eigenen Leibe verspürt haben, kaum nachzuvollziehen. Haig gelingt es aber sehr einfühlsam und völlig unpathetisch, diese Qualen zu beschreiben. Empathische Menschen werden durch seine Schilderung zumindest eine Ahnung davon bekommen, wie es sein muss, diese Gefühle nicht händeln zu können.
Matt Haig hat sich in den letzten Jahren viel mit dieser als „psychischen Krankheit“ bezeichneten Stimmungslage beschäftigt, um herauszufinden, was außer Pillen, vor deren Auswirkungen er eine Heidenangst hat, ihm helfen kann. Stück für Stück hat er sich mit der Hilfe seiner Lieben, aus diesem zunächst unüberschaubaren Morast herausgehievt. Für ihn der einzig gangbare Weg, wobei jeder Mensch, der sich solch einer lebensverändernden und manchmal auch -bedrohlichen Situation ausgesetzt fühlt, seinen eigenen Weg finden muss. Wichtig ist dabei auch, dass man nicht verrückt ist, weil man an dunklen Stimmungen leidet. Denn kein Mensch fühlt sich immer gut, denn ohne Schatten gibt es kein Licht. Nur wie intensiv man diese zwei Seiten einer Medaille erlebt, das ist wohl die Frage. In seinen dunkelsten Stunden war für Matt Haig keine Zukunft möglich. Doch aus der heutigen Sicht weiß er, dass es auch besser werden kann und möchte eben dieses Wissen weitergeben, anderen Hoffnung machen. Denn es gibt so viele Gründe, die das Leben lebenswert machen.
Dennoch ist für Haig eines klar: Eine „komplette Heilung“ wird es nicht geben. Aber es wird zunächst gute Momente, später gute Tage und schlußendlich gute Zeiten geben, die zeigen, dass es weitergehen kann und wird. Schritt für Schritt. MIt Hilfe anderer aber dennoch aus sich selbst heraus, indem man die spezielle Gefühlslage, in der man sich wohl immer befinden wird, annimmt. Damit leben lernt. Und das kann man am besten, indem man sich Gutes tut, versucht, die Schuldgefühle, die zum „Krankheitsbild“ gehören, abzustreifen. Dinge langsam angehen, aber sich nicht hinter der Angst verstecken, sondern sich konfrontieren. Denn aus der Überwindung erwächst im besten Fall Stärke.
Woher Depressionen kommen ist nach wie vor nicht wirklich geklärt. Es gibt Theorien, die Stoffwechselstörungen, nicht aufnehmbare Neurotransmitter, dafür verantwortlich machen. Haig allerdings ist ein Anhänger von Jonathan Rottenbergs Evolutionstheorie der Depression, die davon ausgeht, dass Depression daraus entsteht, dass wir uns der Gegenwart nicht anpassen können:
“ Ein altes Stimmungssystem kollidiert mit einer völlig neuen Betriebsumgebung, die von einer bemerkenswerten Spezies gerade erst erschaffen wurde.“
Eine nicht ganz unstimmige Theorie, gibt es doch durch die Zeiten immer wieder Menschen, die Veränderungen in unserer Lebenswelt als überwältigend, überfordernd beschreiben und für eine Verlangsamung dieser Prozesse, für eine Rückbesinnung auf die wahren Werte plädieren. Rottenberg, seines Zeichens Professor für Psychologie an der University of South Florida (Tampa) hat mit Haig gemeinsam, dass auch er eine neue gesellschaftliche Betrachtung von Depression und Angszuständen erreichen will. Auch deshalb hat er die DA – nein nicht Dumbledores Army, obwohl sie einen ähnlichen Zweck verfolgt, nämlich gewappnet zu sein, um Ängste zu bekämpfen und dem Positiven den Weg zu ebnen – gegründet.
Erstaunlich ist ebenfalls, wie viele Menschen, die tatsächlich erfolgreich waren oder sind und von außen betrachtet scheinbar keine Probleme haben dürfen, unter Depressionen und / oder Angstzuständen leiden.
Was das Buch aber so besonders macht, ist seine Einfühlsamkeit, seine Klarheit und die Tatsache, dass es aufräumt mit dem Irrglauben, Menschen mit Depressionen seien verrückt. Nebenbei ist es auch für Menschen, die sich glücklich schätzen dürfen, nicht unter Depressionen und/ oder Angstzuständen zu leiden eine Bereicherung – auch sie werden wertvolle Tipps für ein angenehmes, gutes Leben finden. Und vielleicht ein bißchen besser verstehen und damit wiederum anderen helfen. Bloße Anwesenheit einer mitfühlenden, liebenden Person kann bereits Erleichterung bringen.
Was man sonst so alles tun kann, damit es einem gut geht? Matt Haig hat viele Tipps, unter anderem diesen: Lest Bücher. Welche ihm persönlich sehr geholfen haben verrät er natürlich ebenfalls. Für die weitere Beschäftigung mit dem Thema gibt es auch Empfehlungen.
Ein paar seiner Tipps aus der Anleitung zum Leben, die er hilfreich findet, sie aber nicht immer beherzigt, haben mir persönlich besonders gefallen:
- Genieß das Glück, wenn es da ist.
- Nippen, nicht kippen.
- Sei sanft zu dir. Arbeite weniger. Schlafe mehr.
- Es gibt absolut nichts in der Vergangenheit, das du ändern kannst. Das ist simple Physik.
- Hab kein schlechtes Gewissen, wenn Du nichts tust. Durch Tun entsteht wahrscheinlich mehr Schaden auf der Welt als durch Nichtstun. Aber mach das Beste aus dem Nichtstun. Sei achtsam dabei.
- Sei dir bewusst, dass Gedanken Gedanken sind. Wenn sie unvernünftig sind, stell sie in Frage, auch wenn du selbst keine Vernunft übrig hast. Du bist der Beobachter deines Geistes, nicht sein Opfer.
- Leben. Lieben. Loslassen. Die drei Ls.
- Die Welt muss dich nicht verstehen. Das ist nicht nötig. Manche Leute werden nie verstehen, was sie nicht selbst erlebt haben. Andere schon. Sei dankbar.
- Der Schlüssel zum Leben auf der Erde ist Veränderung. Autos rosten. Papier vergilbt. Technologie veraltet. Aus Raupen werden Schmetterlinge. Die Nacht wird zum Tag. Depressionen vergehen.
- Sei tapfer. Sei stark. Atme durch und mach weiter. Später wirst du dir dankbar sein.
Ich bin Matt Haig dankbar dafür, dass er mich so nah an sich heran gelassen hat, obwohl ich ihn nicht kenne und vor allem dafür, dass er den Mut hatte, über ein Thema so klar, deutlich und unprätentiös zu schreiben, das viele Menschen beschäftigt, die in unserer Gesellschaft deshalb als schwach gelten. Das sind sie mitnichten. Vor allem dann nicht, wenn sie es geschafft haben, die Depression als einen gegebenen und damit für sie natürlichen Teil ihres Lebens zu akzeptieren. #reasonstostayalive
Buchdetails
- Aktuelle Ausgabe : 18. März 2016
- Verlag : dtv
- ISBN: 978-3-423-28071-6
- Gebunden: 304 Seiten
Kommt auf meine Liste, danke!
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dann nich – zum hören komme ich nicht 😉 Aber trotztdem danke 😉
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Nä, jibbet nich. Buch ham wa nich, sorry.
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na gerne … aber nur als Buch, nicht zum hören 😉
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das habe ich schon verstanden 😉
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Jetzt weiß ich wieder woher ich den Autor kenne. „Ich und die Menschen haben wir doppelt. If you like it I’ll sent it😊
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Damit meinte ich jetzt den Titel von Brené Brown. 🙂
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Besten Dank für den Tipp! Ein weiteres Buch, das ich mir vormerken werde. 🙂
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Leichter Stoff ist es nicht – aber Matt Haig schafft es, es nicht zu einer quälenden Lektüre zu machen. So kann es funktionieren, anderen Mut zu machen und diejenigen, die glücklicherweise nicht betroffen sind, aber vielleicht auch jemanden kennen, der unter Depressionen etc. leidet, zu sensibilisieren. Es ist trotz des Themas ein wirklich schönes Buch! Und es kann – so denke ich – auch dazu beitragen, dass wir alle unseren Gefühlen wieder mehr Bedeutung beimessen. Im Übrigen gibt es zu Verletztlichkeit ein tolles Buch: https://feinerbuchstoff.wordpress.com/2015/08/04/geschichten-sind-beseelte-daten/
LG, Bri
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Ich denke, solche Bücher können viel dazu beitragen, der Stigmatisierung von depressiv Erkrankten entgegenzuwirken. Und ich finde es äußerst mutig von Matt Haig, dass er so ehrlich über sein Innenleben schreibt – und sich ja damit auch verletzlich macht. Ich werde mir das Buch demnächst in der Buchhandlung besorgen und freue mich auf die Lektüre (auch wenn es kein leichter Lesestoff ist). Dir auch einen wunderschönen Sonntag!
Lieben Gruß von Tina
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Vielen Dank für den Link … ich lese gleich nach. Hörbücher sind zwar schön, aber ich habe nie die Zeit sie zu hören. Ich fahre öffentlich – da kann ich lesen – oder Fahrrad. Zuhause lese ich abends zum Abschalten. Wenn ich da ein Hörbuch höre, dann … schlafe ich meist ein :(. Bin gespannt auf deine Eindrücke und werde sie verfolgen 😉 LG Bri
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Dann bin ich um so mehr gespannt darauf, es zu lesen! Falls es dich interessiert, sende ich dir den link zu meiner Rezension des Hörbuchs „Ich und die Menschen“. Das habe ich inzwischen schon etwa 5x gehört: http://www.elementareslesen.de/matt-haig-ich-und-die-menschen/
Liebe Grüße, Petra
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Für mich war es das erste Matt Haig Buch – es wird nicht das letzte sein. Ich habe mir tatsächlich als nächstes Ich und die Menschen vorgenommen 😉 Im vorliegenden Buch hat er tatsächlich auch geschrieben, dass es ihn auch gerettet hat, Ich und die Menschen zu schreiben …LG, Bri
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Bisher kannte ich von Matt Haig nur sein wunderbares Buch „Ich und die Menschen“. Darin hat er die Stärken und Schwächen der Menschen humorvoll aus der Sicht eines Außerirdischen geschildert. Durch deine einfühlsame Buchvorstellung habe ich einen sehr guten Einblick in sein neues Buch erhalten. Danke dafür! Depression ist ein sehr wichtiges Thema, das immer noch als Tabu gilt. Daher ist es gut, offen damit umzugehen. Und die Ratschläge, die der Autor gibt, sind ja offenbar für jeden geeignet. Das Buch muss ich mir gleich bestellen!
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Oh wow, beeindruckend. Vielen Dank! Das Buch ist tatsächlich ein Schatz, weil es klar macht, was mit Menschen passieren kann und wie schwer es ist, wieder aus diesem tiefen Loch herauszukommen. Aber eben auch, dass es gelingen kann. Es ist wichtig darüber zu sprechen und die Stigmatisierung aufzuheben. Gefühle dürfen nicht einfach weggedrückt werden, sie machen uns aus. Ich wünsche Dir viel Spaß bei der Lektüre und bin auf Deine Eindrücke gespannt. LG und ein wunderbaren Tag! Bri
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Das ist eine beeindruckende Rezension zu einem sicherlich beeindruckenden – und wichtigen – Buch. Vielen Dank für deine großartige Buchbesprechung und diesen Lesetipp! 🙂
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