„We become visible“, das haben einige Flüchtlinge am Berliner Oranienplatz auf ein Schild geschrieben, „Wir werden sichtbar“. Aber damit sie sichtbar werden, muss man sie auch sehen wollen. Zwei Jahre haben die meist afrikanischen Männer auf dem Oranienplatz gelebt und darauf gewartet, dass über ihr weiteres Schicksal entschieden wird. Und wie schnell konnte man sich daran gewöhnen, dass sie da waren, schnell waren sie wieder unsichtbar geworden für die Menschen, die hier ihrem täglichen Leben nachgingen.
Richard, emeritierter Professor und Protagonist in Jenny Erpenbecks neuem Roman „Gehen, ging, gegangen“, beginnt, die Flüchtlinge zu sehen. Und sehen zu wollen. Er hat Zeit, seine Universitätskarriere als Altphilologe ist beendet, nur noch selten bittet man ihn, auf Tagungen einen Vortrag zu halten. Seine Frau ist seit 5 Jahren tot.
Anfangs ist die Begegnung mit den Flüchtlingen eine Art Projekt, eine wissenschaftliche Aufgabe, die Richard sich selbst stellt. Er ist Pragmatiker, geht die Dinge sachlich an. Nachdem das Lager am Oranienplatz geräumt wurde, besucht er die jungen Männer in den neuen Unterkünften, unterhält sich mit ihnen und lässt sich ihre Geschichten erzählen. Geschichten von Krieg und Flucht, davon, alles, auch die liebsten Menschen verloren zu haben. Nach und nach gibt er seine professionelle Zurückhaltung auf und lässt es zu, sich auch emotional, das heißt freundschaftlich auf diese Menschen einzulassen. Er beginnt, ihnen zu helfen, gibt ihnen Arbeit, lässt einen von ihnen bei sich zu Hause Klavier spielen. Richard möchte den Flüchtlingen auf Augenhöhe begegnen. Und der Leser begreift nach und nach, dass nicht nur die Flüchtlinge ihn brauchen, sondern er sie genauso. Auch er steht an einem Punkt der Veränderung in seinem Leben, muss damit zurechtkommen, dass sich seine Situation, sein Alltag, vollkommen verändert haben. Er sieht sich mit viel Zeit konfrontiert, die gefüllt werden muss. Genauso wie die Flüchtlinge, wenn auch aus komplett anderen Gründen. Sie können nur warten, auf eine Entscheidung, wie es mit ihnen weitergeht. Sie sind allein hier angekommen. Sie dürfen nicht arbeiten, noch nicht mal als Asylbewerber gelten sie, da Deutschland nicht für sie zuständig ist. Ein komplettes Gesetz kümmert sich zunächst nicht um Inhalte und Flüchtlingsschicksale und die Frage, ob jemand Asyl bekommt oder nicht, sondern regelt nichts als die Zuständigkeit.
Die vielen Flüchtlinge, die nach Europa und nach Deutschland strömen, sind zur Zeit das beherrschende Thema in den Nachrichten, den sozialen Netzwerken. Ausschlaggebend für ihren Roman war ein Unglück im Herbst 2013, als beim Versuch, Italien zu erreichen, ca. 400 Flüchtlinge im Mittelmeer ertranken. Erpenbeck berichtete bei ihrer Lesung beim Literaturfestival in Berlin in der letzten Woche, dass sie die Reaktionen auf dieses Unglück befremdet hätten, Reaktionen in der Art von „Das ist zwar traurig, aber wir können ja nicht alle aufnehmen.“ Es sei diese „Ja, aber – „ – Haltung gewesen, die sie nicht mehr losgelassen habe. Eine Haltung, die hauptsächlich aus Unwissenheit resultiere, so die Beobachtung der Autorin. Damals hat die Autorin nicht ahnen können, wie aktuell ihr Roman sein würde im Moment seines Erscheinens.
Jenny Erpenbeck hätte eine Reportage schreiben können über die Situation der Flüchtlinge in Berlin, sie hat aber einen Roman geschrieben. Einen Roman mit einem fiktiven Helden und einer Geschichte um einen älteren deutschen Mann, die ebenso in diesen Roman gehört, wie die vielen einzelnen Geschichten der Flüchtlinge. Richard ist jemand, der Wörter liebt und der es liebt, über Wörter und ihre Bedeutung nachzudenken. Ein Intellektueller, ein Bildungsbürger, der nach einem neuen Sinn in seinem Leben sucht. Um Geld muss er sich keine Sorgen machen. Er schenkt Vertrauen ohne sich abzusichern. Jenny Erpenbeck erzählt den Prozess, den ihr Protagonist durchmacht, auf fesselnde Art und Weise und immer auch mit einer feinen Prise Humor.
Ob „Gehen, ging, gegangen“ nun buchpreiswürdig ist, sollen und werden andere entscheiden. Für mich hat Erpenbecks Roman alles, was ein guter Roman haben sollte: Eine Geschichte, die mich interessiert und zum Nachdenken angeregt hat und ich die ich komplett eintauchen konnte. Mit Figuren, die klar, deutlich und lebendig gezeichnet sind. Trotz der Informationsflut in diesen Tagen habe ich noch Neues erfahren können. Erpenbeck verfügt über eine im besten Sinne lesbare, lebendige und eindringliche Sprache (die mitnichten sperrig ist, wie den Romanen auf der Buchpreisliste immer mal wieder vorgeworfen wird). Ich wünsche der Autorin viel Erfolg für die Preisverleihung zum Deutschen Buchpreis 2015.
Buchdetails
- Aktuelle Ausgabe : 31. August 2015
- Verlag : Knaus Verlag
- ISBN: 978-3-8135-0370-8
- Gebunden: 352 Seiten
Klingt so …. vom der Relevanz her, von der Story .. spielt in Berlin 😉
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Ich denke auch, dass das Buch gute Chancen hat. Allerdings ist die Buchpreisjury ja auch immer für eine Überraschung gut…
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Bei einem Beitrag von Mara (Buzzaldrins Bücher) habe ich meine Vermutung geäußert, dass eines der Bücher über das Thema Flucht den Buchpreis erhalten wird. Als Zeichen – mit Blick auf die aktuelle Situation. Mal sehen. Die erste Stufe hat das Buch schon geschafft.
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Favorit für den Preis? Wer weiß… Man müsste dabei sein, wenn die Jury das ausdiskutiert… 🙂
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Dem kann ich gar nichts mehr hinzufügen – Seren, toll! Und das Buch, naja, der Stapel wächst und wächst … ein Favorit?
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Danke! 😉
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Ich wünsche schon mal eine angenehme Lektüre!
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Erheblich relevanter *gg* als die manisch depressiven (sind sie das in dem Alter nicht per se?) Teenager von Witzel ;)) Schöne und lockende Rezi
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Vielen Dank! Es wird eines der Bücher sein gegen die ich meinen Büchergutschein nächste Woche eintauschen werde.
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Vielen Dank!
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Schöne Besprechung! Ich habe es ganz ähnlich empfunden…
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