Hallie Costa wächst allein bei ihrem Vater Nick auf, die Mutter ist früh gestorben, Geschwister gibt es nicht. Nick ist Arzt. Jeder kennt ihn in der kleinen Stadt, in der sie leben, und somit kennt auch jeder Hallie. Sie wird von den Bewohnern genau beobachtet. Das Verhältnis zum Vater ist sehr innig. Als die Mutter des Jungen Gus Silva, der in Hallies Alter ist, ermordet wird, hilft sie ihm durch die schwere Zeit der Trauer. Sie sind noch Kinder und freunden sich schließlich an. Gus’ Freund Neil Gallagher gehört auch zu dem unzertrennlichen Trio. Die Dinge ändern sich, als Hallie und Gus im Teenageralter ein Paar werden und es schließlich einen dramatischen Zwischenfall gibt, der sie auseinander treibt. Gus beschließt, Priester zu werden. Er und Hallie verlieren sich aus den Augen. Später führt sie ein erneuter dramatischer Todesfall aber wieder zusammen und verändert noch einmal das Leben aller Beteiligten.
Patry Francis erzählt in ihrem soeben bei uns erschienenen zweiten Roman die Geschichte von Hallie und Gus, von Neil und Nick und einigen anderen über 30 Jahre hinweg bis in die heutige Zeit hinein. Zu Beginn noch Kinder, sind Hallie und Nick am Ende des Romans längst erwachsen und haben einiges erlebt – zu viel, könnte man angesichts der wahren Fülle an dramatischen Situationen und Todesfällen denken, die der Roman aufzuweisen hat. Francis erzählt die Geschichte fesselnd, die Seiten fliegen nur so dahin, und so überliest man zu Beginn gern die oftmals etwas zu bedeutungsschwangeren Dialoge dieser Teenager, die für ihr Alter schon so viel vom Leben wissen und dieses Wissen in manchmal recht altkluger Manier von sich geben. Sie erleben ihre erste Liebe und sprechen nach einer nur sehr kurzen Phase der Unsicherheit bereits in grenzenloser Offenheit alles voreinander aus, was sie füreinander empfinden, was sie denken und fühlen, wie ihr gemeinsames Leben aussehen soll. Als Leser muss man sich entscheiden: Ist das nun ein Zeichen der tiefen Liebe zwischen den beiden, des Verstehens ohne Worte oder ist das doch schlicht unglaubwürdig?
Hallie und Gus sind ohne Zweifel Sympathieträger. Hallies Vater Nick ebenso und es tummeln sich noch ein paar Menschen mehr in dieser Geschichte, mit denen man im wahren Leben gern befreundet sein würde. Sie alle versuchen stets, das Richtige zu tun, und wenn das nicht gelingt, so sind sie oft voller kluger Selbstreflexion, analysieren problemlos, warum sie vielleicht einmal nicht ganz richtig gehandelt haben, sind selbstkritisch. Das gilt auch dann, wenn die Geschichte nach und nach immer dramatischer wird, wenn Zusammenhänge deutlich werden, mit denen man zwar im Rückblick hätte rechnen können, aber nicht gerechnet hat. Man ist verständnisvoll und bemüht sich stets, dem anderen zu verzeihen und Größe zu zeigen. Das bringt es dann mit sich, dass der Roman immer wieder ein wenig ins Pathetische abrutscht, auch sprachlich wird es an einigen Stellen kitschig. Und was Hallie und Gus alles aushalten müssen – eigentlich ist ein Wunder, dass das Schicksal aus ihnen keine verbitterten Menschenfeinde macht.
Soll man den Roman trotzdem lesen? Die Geschichte unterhält zweifellos, und wer mehr nicht sucht, ist hier mehr als gut bedient. Ich bin mir sicher, dass der Roman viele begeisterte Leser finden wird, die sich von dieser spannenden, emotionsgeladenen Geschichte gerne mitreißen lassen. Francis macht es ihren Lesern (eher Leserinnen) leicht: Das alles ist sehr offen erzählt, liegt direkt vor einem, man muss nur zugreifen. Ihre Sprache ist einfach und ohne Schnörkel. Zwischen den Zeilen lesen muss man da kaum: Die Interpretation wird stets mitgeliefert. Ich habe den Roman nicht ungern gelesen, aber im Gedächtnis bleiben wird er mir eher nicht. „Die Schatten von Race Point“ ist ein Roman zum Eintauchen und Wegschmökern. Er erzählt eine Geschichte voller Dramatik und erzeugt Spannung, so dass die knapp 600 Seiten im Nu an einem vorüber gezogen sind. Danach kann man sich leichten Herzens etwas anderem widmen.
Buchdetails
- Aktuelle Ausgabe: 14. Juli 2015
- Verlag: mare Verlag
- ISBN: 978-3-86648-226-5
- Gebundene Ausgabe: 592 Seiten
„Die Interessanten“ war meiner Meinung nach das stärkere Buch. „Die Schatten von Race Point“ ist doch anders gestrickt. Und deutlich dramatischer… Die Romane haben meinem Empfinden nach nicht so viel gemeinsam.
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Natürlich muss es heißen: Wird mir in Erinnerung bleiben. Wenn die Tastatur einfach mal wieder zu schnell ist…
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Die Geschichte – das Aufwachsen und Erwachsen werden einiger Jugendlicher – erinnert mich ein wenig an den wundervollen Roman „Die Interessanten“ von Meg Wolitzer. Deshalb werde ich mir dieser Lesetipp in Erinnerung bleiben.
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