Häftling Nr. 192

av_minelli_verlorene.inddUm 1900. Im Privatrechtlichen Gesetzbuch für den Kanton Turgau, erster Band, Personen- und Familienrecht steht zum Umgang mit unehelichen Kindern:

„… dass eine Weibsperson, welche außerehelich geschwängert wurde, berechtigt sei, ihren Schwängerer wegen Vaterschaft zu belangen, dass sie dies aber nur während der Schwangerschaft machen kann und zwar in der Regel beim Pfarramte…“ S. 222

Es ist ein eingeschränktes Recht, dem gleich mehrere Ausnahmen nachgeschoben werden: Ein unter Sechzehnjähriger könne nicht belangt werden, ein verheirateter Mann ebenso wenig – schließlich sei die Ehe auf jeden Fall zu schützen und nicht durch die Ansprüche der anderen Frau dem Risiko ausgesetzt werden, aus dem Gleichgewicht zu geraten. Weitere Ausnahmen besagen, dass die Geschwängerte noch nicht unehelich geboren haben darf und dass nicht sie es gewesen sein darf, die den Kindesvater verführt hat.

Frieda Keller aber hat nicht etwa ihren Arbeitgeber verführt, er war es, der die bei ihm angestellte Kellnerin zum Beischlaf zwang. Das Ergebnis ist eine geächtete Frau, die fortan in Schande leben muss, die vom Kindesvater keine Unterstützung erwarten darf und schließlich, nach einigen Jahren, in denen der Sohn in einer „Kinderverwahranstalt“ gelebt hat und in denen sie kaum das Geld aufbringen konnte, das sie für seine Unterbringung zu zahlen hat, bis zum Äußersten geht: Sie tötet ihren eigenen Sohn.

„Die Verlorene“, so lautet der Titel des neuen Romans von Michèle Minelli, und verloren ist Frieda ab dem Moment, in dem der Dienstherr die Tür hinter ihnen beiden abschließt. Der Roman zeichnet ihren Weg nach: Der Vater verstößt Frieda, die Mutter ist ihr zwar eine Stütze, stirbt aber früh. Die Schwestern sind nicht greifbar, Frieda erwähnt den Sohn und ihre Überforderung mit der Situation nicht, niemandem gegenüber.

Der Prozess wird durch die vielen Dokumente, die der Autorin zugänglich gemacht wurden, durch die Briefe, Gerichtsakten und Zeitungsartikel, die im Roman originalgetreu wiedergegeben werden, authentisch nachgezeichnet. Dabei muss sich der Leser sein Urteil stets selbst bilden. Kurz und knapp, oft nüchtern ist Minellis Sprache, die meist nur wiedergibt, statt zu werten. Es sind die Dokumente einerseits und die Meinungen, die Verurteilungen durch diese stark männlich geprägte Schweizer Welt, in der sich all das abspielt, andererseits.

Es gibt sie zwar, diejenigen, die Friedas Ausweglosigkeit erkennen und anprangern:

„Die öffentliche Meinung wird zu einem harten Urteil über die Täterin bereit sein; möge sie auch die mildernden Momente nicht ganz übersehen, die bei Müttern unehelich Geborner fast immer in die Waagschale fallen – die Straflosigkeit dessen, der sie unglücklich gemacht hat, ohne selber dafür bestraft zu werden, weder vom Richter noch von der Gesellschaft.“ S. 213

Noch ist diese Gesellschaft aber für ein Umdenken nicht reif, und eine Frau, die ein Kind umgebracht hat, verdient die höchste Strafe. Die Todesstrafe ist dies zunächst, die dann aber in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt wird.

„’Ich nehme Ihnen heute Ihren Namen, Frieda Keller, ab. Ihr seid von nun an Nummer einhundertzweiundneunzig. Für den Rest Eures jammervollen Lebens und bis zum Jüngsten Tag.’“ S. 299

Das Leben im Gefängnis, lange Zeit in völliger Isolation, setzt Frieda arg zu, letztendlich wird sie sich von diesen Jahren niemals mehr vollständig erholen. Friedas Tat wird nicht relativiert; welche Strafe gerecht gewesen wäre, darauf gibt der Roman keine Antwort. Er widmet sich ganz seiner Protagonistin und der Ausweglosigkeit, in die sie geriet und der fatalen Antwort, die sie auf diese fand. Frieda Kellers Leben war in dem Moment beendet, in dem sie Ernstli aus dem Kinderheim abholte – er konnte dort nicht länger bleiben und sie musste eine andere Unterkunft für ihn finden – und mit ihm in den Wald ging.

„’Ja, dass man das tote Kind gefunden hat, las ich letzte Woche in der Zeitung. Niemand wusste von meinem Verbrechen. Meine Schwester und mein Schwager hatten keine Ahnung.‘  
 Sie schweigt. Die Luft kommt, sie sagt: ‚In letzter Zeit waren mir Angst und Reue besonders schwer. Ich fürchtete mich vor Entdeckung, hatte aber nicht die Absicht, mich zu entfernen.‘
  Das ist’s, was sie sagt.
  Und nun ist’s gesagt.
  Und so sagt sie nichts mehr, und keiner fragt.“ S. 211

„Die Verlorene“ ist, das dürfte nicht verwundern, ein bedrückendes Buch voller Trauer und oft auch voller Hoffnungslosigkeit. Voller Ungerechtigkeit. Leicht liest sich das nicht, der Roman ist aber sehr eindringlich und durch die Akten und Briefe und auch die der damaligen nachempfundenen Sprache sehr authentisch. An einigen Stellen hätte man gern etwas straffen, einige Wiederholungen, etwa der teils sehr ähnlichen Zeitdokumente, weglassen können. Es schafft, dieses Buch. Man wird es nicht so leicht vergessen.

Buchdetails

  • Aktuelle Ausgabe : 1. April 2015
  • Verlag : Aufbau Verlag
  • ISBN: 978-3-351-03595-2
  • Gebunden: 440 Seiten

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