Die eigene Ohnmacht

SchuldandereEigentlich ist der Fall klar. Nach über 30 Jahren wird der Mord an der jungen Gelegenheitsprostituierten Emilie Thevenin durch eine DNA Probe aufgeklärt. Der biedere Familienvater Gilles Neuhart soll der Täter sein. Doch kann dieser Mann eine junge Studentin aus einer Industrievorstadt von Paris, die ihr Studium durch Prostitution finanzierte, brutal vergewaltigt, geschlagen und dann erdrosselt haben? Der Journalist Marc Rappaport, aus gehobenen Verhältnissen, Lieblingsenkel eines Großindustriellen und Konzernleiters, kann das nicht glauben. Und so rollt er diesen Fall mit Hilfe seines Polizeifreundes Stefanaggi und seines cleveren Parktikanten Alex noch einmal auf. Die Reise in die Vergangenheit und die Provinz gerät auch für Marc in eine Reise in seine eigene Herkunft und Kindheit.

„Für Marc aber, der nun auf das Haus zuging, in dem Sebastian Ferrer lebte, verkündete diese Stadt mit ihren Großwohnanlagen, die die Shopping-Mall umzäunten, die ganze Misere der Vororte: das Verschwinden der Natur und der Wirklichkeit in der Simulation. Evry, das war für ihn nicht mehr und nicht weniger als die Agonie des Realen.“

Auf seinem Weg zur Wahrheit erlebt der investigative Journalist die brutale Realität, den krassen Gegensatz zu seinem eigenen behaglich eingerichteten Leben.

„Angesichts dieser Kinder, die mit fünfzehn, sechzehn, siebzehn nicht mehr in der Lage waren, Mitgefühl mit ihren Opfern zu empfinden und denen die emotionale Fähigkeit abhandengekommen war, die Folgen ihres Handelns zu begreifen, kamen ihm die philosophischen Aussagesätze, mit denen er aufgewachsen war, wie leere Worthülsen vor.“

Mark verbeißt sich in den Fall, und je tiefer er kommt, desto korrupter wird gehandelt. Die Mächtigen haben genug Mittel und Macht, das Leben zu richten und es bequem für ihre Helfershelfer einzurichten.

„Wie dem auch sei, von einem roten Plüschsessel in der Lobby des Royal aus betrachtet, nahm sich das Leben der Ärzte in Frankreich weiterhin äußerst angenehm aus. Alles ging beschaulich zu, ganz in den Grenzen der gesitteten Korruption.“

Marc ist so einiges gewohnt, doch die Brutalität des Mordes, das Ausnutzen der Macht der Mächtigen über die Ohnmacht der Unterschicht erschrecken ihn zutiefst.

„Waren Sie wirklich dabei, sich eine Gesellschaft ohne Gewissen heranzuziehen, in der der archaische Impuls zu töten nicht mehr durch den verbietenden Gegenimpuls des Gewissens aufgehoben wurde? Waren sie wirklich in der Spaßkultur gelandet, vor der sein erzkonservativer Vater immer warnte, die einzig und allein auf Triebbefriedigung ausgerichtet war?“

Schnell erkennt er auch, dass sich Politiker und Konzerne ein Netz der Sicherheit gebaut haben, worin man sie nicht mehr angreifen kann. Die Wahrheit ist längst nicht mehr das probate Mittel, um Druck aufzubauen.

„Weißt Du was passiert, wenn es, wie du sagst, ‚Wogen der Empörung‘ geben sollte? Dann schließen die den Laden und ziehen an ein anderes Fleckchen. Nach Polen, Rumänien, Italien. So einfach geht das. Der Produktionsfaktor Mensch ist schon lange ersetzbar.“

Klug webt Gila Lustiger den derzeitigen Zustand Frankreichs in ihr Buch ein. Es entfaltet sich vor unseren Augen ein zerrissenes Land, ein Land, in dem die Beamten ein undurchdringliches Netz von Gesetzen, Hierarchien und Behörden geschaffen haben. Durch Doppelbelegung der Verantwortlichkeiten ist der Korruption Tür und Tor geöffnet. Fast erinnert die sachliche und distanzierte Beschreibung der Gesellschaft an Houellebecq. Der Protagonist zum Glück nicht. Marc ist zwar von seiner Herkunft der Oberschicht zuzuordnen, sitzt als Enkel eines Konzernsgründers auch im Aufsichtsrat eines Familienkonzerns, versucht aber nicht nur eine gute Story herauszuholen, sondern sieht auch die Menschen hinter dem Fall. Im Gegensatz zu Houellebecq ‚menschelt‘ er und ist nicht nur unterleibsgesteuert. Dabei ist Marc oft nahe daran, an seiner eigenen Ohnmacht zu scheitern.

Die Schuld der anderen ist mehr als ein Krimi, oder ein Suchen nach einem Schuldigen, nach einem Mörder. Die Einzeltat entpuppt sich als gezielte Methode. Der Mörder wird zu einem gesichtslosen Konzern, auch wenn der Einzelne der Ausübende war. Doch ist dies die ganze Wahrheit?

Gila Lustiger treibt den Spannungsbogen bis auf die letzte Seite, den letzten Satz! Ein großer Roman, den man sich dieses Jahr nicht entgehen lassen darf.

Buchdetails:

  • Aktuelle Ausgabe : 19. Januar 2015
  • Verlag : Berlin Verlag
  • ISBN: 978-3-8270-1227-2
  • Gebunden : 496 Seiten

5 Gedanken zu “Die eigene Ohnmacht

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