Dieser Auffassung ist Benjamin Merz, Protagonist in Hanns-Josef Ortheils Roman „Das Kind, das nicht fragte“, und als Ethnologe gehört sowohl das Lesen, als auch das Schreiben zu seinem täglichen Leben. Zu Beginn des Romans landet er auf Sizilien, wo er die kleine Stadt Mandlica besuchen will. Sie ist bekannt für ihre außergewöhnlich guten Dolci, ihre Süßwaren, und Benjamin plant, gleich mehrere Monate zu bleiben und intensive Studien über die ganze Stadt und ihre Bewohner zu betreiben.
Er bedient sich dabei der sogenannten teilnehmenden Beobachtung.
„… Sie besagt, dass ein forschender Ethnologe sich den Sitten und Gebräuchen der Untersuchungsregion beinahe bis zur Aufgabe seiner eigenen Identität hin anpassen soll.“ (S. 18).
Das bedeutet zum Beispiel, dass er sich nicht wie seine Landsleute ein deutsches Auto leiht, sondern sich einen Fiat geben lässt – den Autoverleiher freut’s.
In Mandlica bewohnt er eine Pension, die von Maria geführt wird, einer Deutschen, die hier vor vielen Jahren mit ihrer Schwester eigentlich nur durchreisen wollte, dann aber blieb. Maria ist gesprächig und gesellig, Paula zunächst zurückhaltend und ablehnend. Mit der Zeit wird aus dem Außenseiter Benjamin einer, der mehr und mehr in die Stadt gehört – ein Teil von ihr wird, und bekannt ist er dort bald auch aufgrund seiner Forschungen und der Gespräche, die er mit verschiedenen Einwohnern der Stadt führt. Sie reißen sich darum, Teil seines Projekts zu sein. Und sie lassen ihn hineinschauen in das sizilianische Dorf und das Innenleben seiner Bewohner oder auch Bewohnerinnen:
„Das junge Mädchen in einem selbst wird man nie los – das ist wieder so eine sizilianische Redensart, wissen Sie. Auch die älteren Frauen wünschen sich nichts mehr, als von älteren oder jüngeren Männern angeschaut und beobachtet zu werden. Sie möchten die Blicke anziehen, sie möchten beachtet und durch die Blicke geehrt werden.“ (S. 299)
Thema des Romans ist immer wieder die Kindheit Benjamins: Er war der jüngste von fünf Brüdern, die, alle mehrere Jahre älter, ihn drangsalierten und neben denen er sich nicht behaupten konnte. Er war „das Kind, das nicht fragte“, eingeschüchtert, ein Einzelgänger. Im Erwachsenenalter ist das Fragen gerade das, was Benjamin beherrscht. Seinen Gesprächspartnern entlockt er Persönliches, er hat es perfektioniert, sich in andere hineinzuversetzen, sieht und ahnt daher Dinge, die andere nicht sehen.
In seiner ruhigen Erzählweise ist „Das Kind, das nicht fragte“ anderen Romanen Ortheils durchaus ähnlich. Diese Art, seine Geschichte langsam zu entfalten und dabei ganz genau in die Gefühle und Gedanken seiner Protagonisten einzutauchen, muss man mögen, wenn man dem Roman etwas abgewinnen will. Ortheil schaut genau hin, nimmt sich Zeit, um die Entwicklung seines Helden genau mitzuverfolgen. Sein Stil ist wie gewohnt geschliffen. Die süditalienische Atmosphäre fängt er gekonnt ein. Der ideale Schauplatz für eine positive, lebensbejahende Grundstimmung, die Ortheils Roman auszeichnet.
Ob die Geschichte um Benjamin – in Mandlica dann auch Beniamino genannt – realistisch ist? Fliegt unserem Helden, dessen Leben in früheren Jahren eher von Enttäuschung und Einzelgängertum geprägt war, zu viel zu? Womöglich. Aber ein bisschen Märchen hat noch nie geschadet. Das wahre Leben ist schließlich realistisch genug.
Buchdetails
- Aktuelle Ausgabe : 13. Oktober 2014
- Verlag : btb Verlag
- ISBN: 978-3-442-73981-3
- Flexibler Einband: 432 Seiten
Das mit dem Tee und dem Kaffee ist so wahr, mich erschlägt es fast.
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