Bleibt man sein Leben lang der Gleiche?

RachmannDie Frage nach Identität, danach, ob man mit 80 noch der Gleiche ist, der man mit 8 war, stellt sich Tooly Zylberberg eigentlich nicht, denn sie ist sich sicher, dass sie schon als Kind genauso war, wie sie im Jahr 2011 als Frau in ihren frühen Dreißigern ist. Hier lernen wir sie kennen: als Inhaberin einer Buchhandlung, die so schlecht läuft, dass es nur eine Frage der Zeit zu sein scheint, wann Tooly und ihr einziger Mitarbeiter Fogg den Laden schließen müssen. Trotzdem zieht sich genau jene Eingangsfrage durch ihr Leben und somit auch durch den vorliegenden Roman.

Toolys Lebensgeschichte ist voller Leerstellen, nicht nur der Leser kann Tooly zu Anfang schwer einschätzen, auch sie selbst weiß nicht recht, wo sie herkommt und wo sie hingehört. „Aufstieg und Fall großer Mächte“ von Tom Rachman beschreibt Toolys Suche nach ihren Wurzeln, die mit der E-Mail ihres Ex-Freundes Duncan, mit dem sie um die Jahrtausendwende liiert war, beginnt. Ihr Vater sei sehr krank, schreibt er, und Tooly fragt sich, wen er damit wohl meinen könnte. Sie macht sich auf den Weg, die Rätsel um ihre Herkunft zu lösen.

Rachmans Roman erzählt Toolys Leben auf drei Zeitebenen: Im Jahr 1988 lebt sie fast zehnjährig mit Paul in Bangkok, sie leben zurückgezogen und verstecken sich offenbar vor etwas oder jemandem, und sie ziehen immer weiter, bleiben nirgends länger als ein Jahr. 1999 dann wohnt Tooly in New York zusammen mit dem alten Humphrey, der mit russischem Akzent spricht und ihr das Schachspielen beibringt.

„Was ist >Wot-car<?“
„Was Wodka ist? Ist wie Wasser, nur mit Folgen.“
„Mit Folgen?“
„Ich meine, mit nicht so schönen.“ Er betonte das „nicht“. „Für hochqualitativen Schachathleten ist Wodka hochschädlich.“
 

Die sprunghafte Sarah kommt und, geht und dann ist da noch Venn, immer ein wenig geheimnisvoll, eine starke Identifikationsfigur für Tooly. In der WG ihres Freundes Duncan geht sie ein und aus. Die dritte Zeitebene ist die der Gegenwart im Jahre 2011.

Als Leser tappt man in Rachmans Roman lange Zeit im Dunkeln, er entwirrt die Fäden um Toolys Vergangenheit nur langsam und erzählt immer abwechselnd aus den verschiedenen Jahren. Auf fast 500 Seiten erfahren wir, wer Paul war, warum sie ein unstetes Leben führten, und ebenso, was es mit all den anderen Protagonisten auf sich hat. Toolys Bezugspersonen waren immer Ältere, und sie musste früh erwachsen werden. Nach außen gibt sie sich zuweilen ein wenig hart und abgebrüht, aber es wird doch immer wieder deutlich, dass das nur Fassade ist. Tooly ist eine selbstbewusste junge Frau auf der Suche nach dem Rätsel ihres eigenen Lebens.

Rachmans Buch ist ein Roman über Freundschaft und die Wichtigkeit von Bezugspersonen und von Bindungen zu Menschen überhaupt, aber auch über die Wichtigkeit von Bindungen an Orte. Tooly hat keinen Ort, der für sie Heimat wäre, einen Ort zum Zurückkehren, und ebenso scheint es sich mit den Menschen zu verhalten: Es fällt ihr schwer, sich wirklich auf andere einzulassen.

Gute zwanzig Jahre Zeitgeschichte umfasst Rachmans Roman, die den Hintergrund zu seiner Geschichte bilden. Zwanzig Jahre „Aufstieg und Fall großer Mächte“. Liebenswerte, teils skurrile Charaktere, komplex und überzeugend gezeichnet, große Fragen des Lebens leichtfüßig eingeflochten, teils traurig, teils humorvoll. Ein Roman, der Spaß macht und der eine einzigartige Atmosphäre schafft. Eine Reise in Toolys Vergangenheit, in die man ihr nur zu gerne folgt.

„Im Leben“, verkündete sie, „gibt es immer solche, die bleiben, und solche, die immer weiterziehen.“
 

Vielleicht wird Tooly am Ende ja bleiben.

Buchdetails

  • Aktuelle Ausgabe : Oktober 2014
  • Verlag : DTV
  • ISBN: 978-3-423-28035-8
  • Gebunden: 496 Seiten

 

Ein Gedanke zu “Bleibt man sein Leben lang der Gleiche?

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