Es gibt Menschen, die lange Zeit in Hotels leben. Heute ist so eine „Mietsituation“ meist eher exotisch, vor ca. hundert Jahren jedoch war solch ein Wohnarrangement – gerade für Arbeiter – nichts unbedingt außergewöhnliches. Die Zimmer eines Hotels sind möbliert, oft kann man sich auch essentechnisch dort gut versorgen. Meine Großmutter hatte, als der Zweite Weltkrieg endlich beendet war, die Führung der elterlichen Gaststätte übernommen, mittlerweile verwitwet mit einer kleinen Tochter, die sie brauchte, bot sie zusätzlich sogenannte Fremdenzimmer an. Häufig waren es Monteure, die im nahegelegenen Großkraftwerk Franken I arbeiteten und aus anderen Städten kamen. Auch das Hotel du Nord, das Eugen Dabit 1929 in seinem Roman verewigte, war ein damals einfach gehaltenes Hotel, das vor allem Arbeiter*innen eine Heimat bot. Dabit hat sie kommen und gehen sehen und gut beobachtet, was das Hotel, das seine Eltern lange führten, im Kern ausgemacht hat.
Das Hotel du Nord in Paris ist nicht nur durch Dabits Roman im französischen Gedächtnis verankert. 1938 wurde der Roman verfilmt – allerdings, soweit ich das richtig einschätze, mit etwas veränderter Story. In beiden Versionen werden vor allem die sogenannten „kleinen Leute“ in den Fokus des Geschehens gerückt. Manche wohnen dort, weil ihre Arbeit direkt in der Nähe ist, andere, weil sie dort einfach in Ruhe gelassen werden. Vor allem die Frauenfiguren Dabits fand ich extrem interessant gezeichnet – während sie manchmal gezwungenermaßen ihr Leben schnell wieder auf die Reihe bekommen und den nicht vertrauenswürdigen Männern aus dem Weg gehen müssen, sind eben fast ausschließlich alle Männer einfach unzuverlässig. Die Männer dürfen sich ausleben, die Frauen werden dafür verachtet und ausgenutzt. Geschützt werden die Hotelbewohner*innen allerdings durch das Ehepaar Lecouvreur, also durch die Hotelbetreiber. Vor allem Madame Lecouvreur achtet sehr darauf, dass die Frauen im Hotel ehrbar bleiben können, weiß sie doch genau, dass die Männer diejenigen sind, die den ganzen Schlamassel mit sich bringen und den Frauen einen gewissen Ruf anhängen.
Nicht immer ist es für die Hotelbesitzer leicht, den Frieden zu bewahren – Alkohol macht die Menschen streitsüchtig. Das kenne ich aus den Erzählungen meiner Eltern über unschöne Situationen in der Gaststätte der Familie. Im schlimmsten Fall leidet auch das Mobiliar und so können die Lecouvreurs die Zimmer nur nach und nach besser ausstatten. Die Gegend in der das Hotel liegt, ist geprägt von Fabriken, Werkstätten und vielen Brücken. Das Leben der Menschen, die im Hotel du Nord eine Bleibe gefunden haben, ist einfach. Man kennt sich, mag sich oder mag sich nicht, trinkt zusammen und versucht einfach den Kopf über Wasser zu halten. Früher oder später, zieht man weiter, wenn man sich eine eigene Wohnung leisten kann, eine andere Arbeit gefunden hat, nicht mehr arbeiten kann oder wieder zurück in die Provinz geht, woher man vielleicht ursprünglich kam.
Dabit hat die Sorgen und Nöte, aber auch die kleinen Freuden der Menschen im Hotel du Nord treffsicher und unprätentiös eingefangen. Die einzelnen Personen stellt er der Leserschaft klar vor Augen und so entsteht ein Reigen, der alles Menschliche zeigt, was man sich vorstellen kann. Große Leseempfehlung!
Hotel du Nord von Eugène Dabit, übersetzt von Julia Schoch, ist als Hardcover bei Schöffling & Co. erschienen. Für mehr Informationen zum Buch über Doppelklick auf das im Beitrag abgebildete Cover oder auf der Verlagsseite.

Ich kann es wohl nicht anders LG
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Wieder mal gehst Du von eigenen Erinnerungen aus zu einer Buchbesprechung. Vielen Dank, Bri!
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