Gebete für meine Großmutter

Die jüdische Religion ist eine der ältesten Glaubensrichtungen auf der Welt. Sie existiert seit über 3000 Jahren, der Islam und das Christentum basieren auf der in der Tora festgehaltenen Überlieferungen des Judentums. Auch wenn die Anhänger mit 13 Millionen eine geringe Menge sind. Diese Religion umgibt eine gewisse Mystik, die Anhänger sind eine verschworene Gemeinschaft, die Rituale untereinander viel diskutiert und für Außenstehende schwer einsehbar. Auch für mich, als nicht Dazugehörigen. Bücher, die mich mit zu vielen fremden jüdischen Wörtern und Traditionen überschütten, strengen mich an und ich kann mich in ihnen nicht einfinden.

Ganz anders in dem hier vorliegenden Buch, das mich durch seine sanfte Atmosphäre sofort in den Bann geschlagen hat. Das Kaddisch ist ein Heiligungsgebet und wird außerdem zum Totengedenken am Grab gesprochen. Rezitiert werden darf es nur, wenn zehn erwachsene Juden anwesend sind, die an bestimmten Stellen des Gebets antworten. Diese zehn Juden spielen im Buch eine kurze Rolle, darauf soll später eingegangen werden.

Die Ich-Erzählerin wohnt in Berlin und erfährt, dass ihre Großmutter in Lemberg gestorben ist. Sie macht sich auf den Weg, um die Schiwa, die traditionelle Totenwache, bei ihrer Großmutter zu halten. Diese vier Tage werden in dem Buch beschrieben und es ist eine Reise in die persönliche Vergangenheit, Gedanken an die Jugendzeit der Erzählerin, die sie in Lemberg verbrachte, aber auch ein Rückblick in die Vergangenheit der ukrainischen Juden. Zusätzlich bricht bei dem Treffen mit ihren Eltern, gerade mit ihrer dominanten Mutter, der Mutter-Tochter Konflikt auf. Verwirrend für den Leser, taucht Hannah auf, eine fiktive Person, die die Ich-Erzählerin anstelle ihrer die Geschichte der Vergangenheit erzählen lässt..

Die Ich-Erzählerin kommt zu spät, um Abschied zu nehmen, die Großmutter ist, wie es im Judentum üblich ist, schon begraben, damit ihre Seele Ruhe findet. Trotz der verschiedenen Ebenen, baut sich sehr plastisch das Lemberger Haus der Großmutter auf, werden empathisch die Gefühle von Hannah beschrieben.

„Am Haus Nummer acht bleibt sie stehen. Die Acht pendelt über der Eingangstür an einem rostigen Nagel wie eine lose Augenbinde. Das Fenster im Erdgeschoss ist gekippt. Ein alter, blauer Vorhang mit verblichenem Herbstmuster bewegt sich im Wind. Sie klingelt an der Tür, niemand öffnet.“

Erinnerungen werden wach. Die Erzählungen der Großmutter werden wieder lebendig. Die Suche der überlebenden Juden nach dem Krieg, nach ihren Brüdern und Schwestern.

„Nach dem Krieg, als die wenigen überlebenden Lemberger Juden zurück in die Stadt kamen, liefen sie durch die Straßen auf der Suche nach einer Bleibe. Und dann sprach plötzlich jemand dieses Wort, Amchu, dein Volk, und die anderen machten ihm nach. Wenn man jemandem begegnete, der wie ein Häftling aussah, sagte man einfach Amchu. Und wenn er mit Amchu antwortete, ging man auf ihn zu und umarmte ihn.“

Eine sehr schöne jüdische Tradition ist die, dass bei einem Besuch auf dem Friedhof ein Stein auf das Grab gelegt wird. Seitdem ich auf diese Tradition aufmerksam gemacht wurde, habe ich es mir angewöhnt. Auch die Ich-Erzählerin hat diesen letzten Willen ihrer Großmutter zu erfüllen.

Großmutter forderte mich auf, laut und deutlich zu sprechen. Ab heute ist sie volljährig und hat Pflichten sagte sie zum Schluss. Welche?, fragte ich. Sie muss etwas versprechen. So kam ich damals zu dem Versprechen, ihr nach dem Tod zwei Steine auf das Grab zu legen: einen von der Ruine der Synagoge und einen aus der Rappoportstraße, von dem Haus, in dem sie vor dem Krieg gelebt hatte.“

So vermischen sich Vergangenheit, Fiktion und Gegenwart zu einer fast märchenhaften Stimmung. Wie im Wunderland tauchen zehn Juden auf dem Friedhof auf, so kann das Kaddisch gebetet werden. Die Erinnerungen von Hannah decken sich nicht mit denen der Ich-Erzählerin, sind dies die Wünsche, die die Enkelin hat, die Wünsche so mit ihrer Großmutter gelebt zu haben? Nach vier Tagen muss sie zurück nach Berlin, im Gepäck das Wenige, das ihre Großmutter noch an wertvollem Besitz hatte. Ein Happy End? Falls man bei einer solchen Reise in die düstere Vergangenheit des Zweiten Weltkrieges davon sprechen kann, ja. Falls Überleben ein Happy End ist.

Ein etwas anderes, biografisch geschriebenes Buch, das mich unaufdringlich gepackt hatte.

Kaddisch für Babuschka von Marina B. Neubert ist 2018 im unverzichtbaren Aviva Verlag als gebundene Ausgabe erschienen. Nähere Infos zum Buch über einen Klick auf das Cover im Beitrag oder auf der Verlagsseite.

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