Wird’s besser? Wird’s schlimmer? fragt man alljährlich. Seien wir ehrlich: Leben ist immer lebensgefährlich! dieses Zitat von Erich Kästner, das gerne zu Silvester herausgekramt wird, könnte sehr gut das Motto für Maggie O’Farrells gerade im Piper Verlag erschienene Buch Ich bin Ich bin Ich bin bilden. O’Farrell selbst stellt ihren biographischen Erzählungen, die sie ihren Kindern gewidmet hat, jedoch ein Zitat aus Sylvia Plaths Glasglocke voran:
Ich atmete tief durch und
lauschte der alten Kampfansage meines Herzens.
Ich bin, ich bin, ich bin.
O’Farrells Leben ist seit einer unbekannten Virusinfektion, durch die es mit 8 Jahren beinahe schon beendet worden wäre, von Grenzsituationen geprägt. Situationen, die sie oder einen ihrer Lieben dem Tod so nah kommen ließ, dass man sich bei der Lektüre fragt, wie man all diese Situationen so verarbeiten kann, wie es O’Farrell offensichtlich tat, ohne dabei dem Wahnsinn anheim zu fallen. Sei es der Unbekannte auf dem Wanderpfad, der einem zunächst unauffällig vorkommt, sich letztendlich als potentieller Triebtäter entpuppt, den nur gerade heute etwas zurückhält oder die lebensbedrohliche Allergienvielfalt der Tochter, durch die jederzeit ein anaphylaktischer Schock ausgelöst werden könnte, der nicht rechtzeitig behandelt, das Äußerste bedeutet. O’Farrell schildert all diese Situationen, Ereignisse und Erlebnisse dicht, einnehmend und doch soweit distanziert, dass keinerlei Larmoyanz aufkommen kann. Sie ist zweifelsfrei eine starke Persönlichkeit.
Sie weiß um die Zerbrechlichkeit eines jeden Lebens und vielleicht ist das der Grund für ihre Offenheit, die Basis ihrer Stärke und ihres Kämpferwillens, wenn sie sich, ihr krankes Kind in den Armen haltend, auf schnellstem Wege in eine italienische Notfallambulanz begebend, mit absoluter Bestimmtheit sagt: dies ist nicht das Ende. Heute ist es nicht vorbei, denn sie ist, sie ist, sie ist. Geboren ist Maggie O’Farrell in Nord Irland – eine gebeutelte Gegend – doch aufgewachsen ist sie in Wales und Schottland. Naturnahe Landschaften, die man sich rauh vorstellt, mit einer herben Schönheit. Schon früh hat sie Jobs, will weg aus der Enge, raus in die Welt. Als Teenie macht sie, wie viele andere auch, eine harte Zeit durch und kann heute, im Nachhinein noch erstaunlich genau benennen, wie es sich anfühlt, ein Teenager zu sein:
„Sie bleiben lange hier draußen. Sie langweilen sich, auf diese geisttötende Art, die typisch ist für ihr Alter. Sie sind alle um die sechzehn. Sie haben ihre ersten Prüfungen abgelegt und warten jetzt auf die Noten, warten darauf, dass der Sommer zu Ende geht, dass die Schule wieder anfängt, dass ihre Zukunft Form annimmt, die Touristen abreisen, sie warten. warten. Manche warten darauf, dass ein verkorkster Haarschnitt herauswächst, dass ihre Eltern ihnen das Autofahren erlauben oder ihr Taschengeld aufstocken oder endlich schnallen, wie beschissen es ihnen geht, dass der Junge oder das Mädchen ihrer Wahl Notiz von ihnen nimmt, dass die Kassette kommt, die sie im Musikladen bestellt haben, dass ihre Schuhe kaputtgehen, damit sie neue bekommen, dass der Bus um die Ecke biegt, dass das Telefon klingelt. Sie warten, alle warten sie, weil das Warten die Hauptbeschäftigung von Teenagern in Küstenstädten ist. Darauf, dass etwas endet, dass etwas beginnt.“
Und weil sie gelangweilt ist, weil sie den Mief der Hotelküche für die sie kellnert loswerden will, macht O’Farrell eine Dummheit, die ihr fast das Leben kostet. Doch nicht nur aktiv begibt sie sich an die Grenze, die wir alle früher oder später tatsächlich überschreiten werden. Und nicht immer ist sie es, die diese Grenze beinahe überschreitet. Sie erleidet mehrere Fehlgeburten, die sie so einfühlsam, ehrlich und herzzerreißend beschreibt, dass man nachfühlen kann, wie sehr Frauen unter solchen furchtbaren Ereignissen leiden. Wie kalt die Außenwelt auf diese unendliche Trauer reagiert ist ebenso schockierend wie abstoßend. Und trotz all dem schafft es Maggie O’Farrell, dass nicht Trauer und Niedergeschlagenheit dominieren, sondern Trost und Mut.
Ihr Memoir ist auch wegen ihrer dichten Sprache, die einen quasi antreibt immer weiter zu lesen und der damit verbundenen hohen Lesbarkeit mehr als nur ein Memoir. Es ist eindeutig literarisch. Sprache, Konzept und Struktur belegen dies. Angereichert aber wird dieses durch eine Herzenswärme und Klugheit, die schon Weisheit zu nennen ist, die nur ein Mensch mit breit gefächerter Erfahrung, mit Grenzerfahrungen, ausstrahlt. Dass mir dieses Buch empfohlen wurde, ist ein Geschenk.
Maggie O’Farrell hat bereits sieben Romane verfasst, für die sie mehrfach ausgezeichnet wurde. Für mich eine wunderbare Autorinnenneuentdeckung, die ich mir auf jeden Fall bald näher ansehen werde.
Buchdetails
- Aktuelle Ausgabe: 01. Juni 2018
- Verlag: Piper Verlag
- ISBN: 978-3-492-05889-6
- Gebunden: 256 Seiten
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Oh danke für die Info – ich gehe heute noch in die Bib und schaue mal, ob ich was von ihr finde. Ganz liebe Grüße, Bri
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Wir haben im Bookclub mal „The Vanishing Act of Esme Lennox“ gelesen, ist schon länger her, aber ich meine das hatte uns auch allen sehr gut gefallen. Habe die Autorin ganz positiv in Erinnerung 🙂
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Ja ich muss nach ihren Romanen schauen, unbedingt. Dieses Buch hier hat mich echt im Innersten gepackt. LG
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Oha, da scheint wirklich großartiges Autorinnenneuland zu winken. Danke dir Bri.
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