Jeder gegen jeden

Wut! Neulich habe ich in einem Online Magazin gelesen, dass unsere Gesellschaft von Wut zerfressen ist. Jeder kämpft gegen jeden, um noch das letzte bisschen Quadratmeter Platz zu bekommen, um schneller in der Schlange zu sein, früher beim Doktor dranzukommen, das letzte Schnäppchen noch zu ergattern, den letzten Parkplatz zu belegen, Platz auf der Autobahn, um dann mit 180 den Vordermann wegzuschieben, den letzten pünktlichen Zug zu erwischen (wobei DAS existiert längst nicht mehr) einfach das letzte bisschen Aufmerksamkeit und Menschlichkeit, das es noch gibt, zu erhaschen. Als würde es das alles morgen nicht mehr geben.

Und dabei wird gnadenlos alles um einen herum niedergemacht, mit den Möglichkeiten die man so hat. Verbal, hinterlistig, anwaltlich oder einfach mal draufschlagen. Was, du hast meine Freundin schief angeschaut? Druff! Weil in fast jedem die Wut und der Hass regiert. Und durch die Politik fühlt sich niemand mehr vertreten. Ist das nur in Deutschland so? Im vorliegenden Buch, wird die französische Gesellschaft bitterböse und gnadenlos seziert. Doch man hat das Gefühl es kann überall sein.

„Jetzt im Monoprix hätte er gern eine Bazooka dabei. Die dicke Blonde da mit ihren fetten Schenkeln in Minishorts, die sich rausputzt, als wäre sie ein Klasseweib, dabei ist sie einfach eine Kuh: eine Kugel in den Kopf. Das Pärchen dort im Kooples-Stil, katholisch und ultrarechts, sie mit Retrobrille und straff nach hinten gekämmten Haaren, er mit Schönlingsfresse und Ohrhörer, der zwischen den Regalen telefoniert, während sie nur superteures Zeug einpacken, beide in cremefarbenem Regenmantel, damit man ja auch sieht, dass sie Rechte sind: eine Kugel in die Fresse. Der dicke Geldsack, der auf den Arsch der Mädchen starrt, während er sein Halalfleisch kauft: eine Kugel in die Schläfe. Die Judenmammi mit ihrer Perücke und den widerlichen Titten, die ihr gleich überm Nabel gewachsen sind, er hasst Weiber, die ihre Titten mitten auf dem Bauch haben: eine Kugel ins Knie. Einfach draufhalten, zusehen, wenn die Überlebenden wie Ratten davonrasen und sich unter den Regalen verkriechen, die ganze Scheißbande, die hier versammelt ist, um sich den Wanst vollzuschlagen, mit ihrem erbärmlichen Hang zum Lügen, Schummeln, Tricksen, Vordrängeln, Angeben. Alles in die Luft jagen!“

Vernon Subutex hat sich jahrelang über Wasser gehalten. Nachdem die Musik-Downloads aufkamen, musste er seinen Plattenladen aufgeben. Von den Resten, die auf Ebay verkaufte, hat er aber noch gut gelebt. Und das hat auch irgendwie, mit Hilfe von Freunden, Aushilfsjobs und der Stütze, gereicht. Nun ist Alex tot. Alex, den er immer anschreiben konnte, der wegen der alten Zeiten seine Miete einfach so mit einem Schnipp überwiesen hat. Und jetzt fliegt er aus der Bude raus, der schmale Grat ist überschritten. Was nun? Nun beginnt eine Reise durch viele Betten in Paris. Vernon klappert Freunde, alte Liebschaften und alte Kumpels ab.

Virginie Despentes nutzt diese Gelegenheit und springt in andere Menschen hinein, in ihr Leben, ihre Ängste, ihre Wut. Manchmal muss sich der Leser den Zusammenhang mit Vernon erarbeiten, manches Mal erschließt sich er erst später im Buch. Es ist faszinierend, wie unterschiedlich diese Menschen sind, aber wie zielgenau Despentes zum Kern kommt. Jede Figur entwickelt dadurch ihr Eigenleben und nach und nach wird dem Leser diese bunte, ärgerliche, ängstliche Pariser Gesellschaft vertraut.

„Die Kultur der Armen, Kiko könnte kotzen! Wenn er so leben müsste – versalzener Fraß, Metro, für unter fünftausend schuften und Klamotten im Kaufhaus kaufen. Am Airport auf harten Stühlen warten, nichts zu trinken, keine Zeitung kriegen, wie der letzte Dreck behandelt werden und Economy fliegen, ein Economy-Arsch sein, die Knie unter dem Kinn und die Ellbogen der Nachbarin in den Rippen. Altes, cellulitisches Fleisch ficken. Freitags um eins nach Hause rennen, da warten Haushalt und Einkauf.“

Ihre Sprache ist drastisch, direkt, kommt zum Punkt aber nie wertend. Despentes schwebt wie ein Voyeur über die Szenen, ist aber gleichzeitig mitten drin im Geschehen. Sie lässt den Leser sich ein Bild machen und beleuchtet die imaginären Gedanken der Personen mit 5000 Watt Birnen. Das gelingt bei solchen Personen wie Kiko dem Bankhändler, aber auch bei den Verzweifelten, den Sanften, den Suchenden oder den Pennern. Vernon ist so eine Person, die gerade durch ihr vorheriges Leben indifferent wirkt, kein Ziel hat.

 

„Sein Handyabo ist abgelaufen, er macht sich keinen Kopf mehr um Flatrates. Im Angesicht der Katastrophe hält sich Vernon an einen Grundsatz: so tun, als ob nichts wäre. Er hat zugesehen, wie alles den Bach runterging, erst war es in Zeitlupe, dann legte der Absturz an Tempo zu. Aber Vernon hat weder die Gleichgültigkeit noch die Eleganz aufgegeben.“

Das Leben wird ignoriert oder mit Hass beworfen. Ist das auf Dauer nicht langweilig in der Wut? Ermüdet sich Wut nicht in ihrer andauernden angeschwollen Art? Nein! Despentes hat durch die Distanziertheit genug Potential, um Erholung zu schaffen und auch Sätze wie: „Wenn man über vierzig ist, gleicht die ganze Welt einer bombardierten Stadt.“ über das Buch zu verteilen. Nebenbei wird auch noch ein roter Faden in der Geschichte sichtbar. Vernon wird gesucht. Er hat etwas, wofür manche Leute viel Geld bezahlen würden.

 

„Den Charme zu wahren, wenn man seine Frische verliert, ist ein Kunststück, das nur selten gelingt. So gern sich die Leute nützlich und großzügig fühlen, so sehr fürchten sie alte Körper, gezeichnete Gesichter und die Erbärmlichkeit einigen Glanzes. Sie werden zu Ruinen – etwas, was einmal erhaben war und nun nur noch ein Haufen Steine ist.“

Die Charaktere werden dabei nie demontiert oder von Despentes verlassen. Jeder erhält hier seine Chance, auch die gewalttätigen Jungs:

„‚Du bist zu sensibel. Ihr gewalttätigen Jungs seid immer die Sensibelsten.“Das ist ein Weibersatz.“Wir wussten nicht, dass wir so verpeilen würde, was?‘ ‚Und wenn wir’s gewusst hätten, was hätte das geändert?“

Despentes Buch hält uns den Spiegel der Gesellschaft vor. In vielen Charakteren wird sich der Leser das ein oder andere Mal finden. Dennoch wird das Buch nie negativ oder erschöpfend. Im Gegenteil man liest so manches Mal seine eigenen Gedanken, so wie man selbst sie nicht niederschreiben würde. So wie ich, der Leser, auch nie denken würde. Das Leben des Vernon Subutex ist der erste Band einer Trilogie, wobei der nächste Band erst im Frühjahr 2018 erscheinen wird.

Eine klare Leseempfehlung!

Buchdetails:

  • Aktuelle Ausgabe : 17. August 2017
  • Verlag : Kiepenheuer & Witsch
  • ISBN:  978-3-462-04882-7
  • Gebunden: 400 Seiten

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