Helfen – Wille oder Kunst?

“ Das Bedürfnis, dem Artgenossen beizustehen, das wir mit vielen Tieren teilen, selbst so niederen und unsympathischen wie Wespen oder Ameisen, nannten und nennen neunmalkluge Schwachköpfe „Helfersyndrom“, als sei das eine multiple, entsprechend komplizierte Krankheit, eine Psycho-Seuche, die nur Exemplare unserer Gattung befällt. Warum zum Henker, soll es krank sein, den Mitmenschen gesund sehen zu wollen – oder tot, falls Heilung nicht möglich ist?“

Asta ist gestrandet. In München am Flughafen, ohne Gepäck, neben einer Drehtür. Ein One-Way-Ticket in die Heimat haben ihr die KollegInnen geschenkt, damit sie endlich aufhören könne, zu helfen. 20 Jahre war sie im Dienst verschiedener internationaler Hilfsorganisationen in unterschiedlichen Ländern und half. Zuletzt in Nicaragua, wo es die KollegInnen letztendlich nicht mehr aushielten, mit ihr zusammen zu arbeiten. Sicher, im Rentenalter ist sie … doch was passiert mit ihr, mit ihrem Leben, wenn sie nicht mehr gebraucht wird?

Der Platz an der Drehtür ist wie gemacht für sie. Dort ist der Aschenbecher, dort kann sie rauchen. Kette. Und während sie sich eine Zigarette nach der anderen anzündet, lässt sie ihr Leben Revue passieren. Menschen die Menschen ähnlich sehen, die sie einst kannte, lassen Episoden aus ihrem Leben vor ihrem geistigen Auge erstehen. Schwingt die Drehtür, vermischen sich Gegenwart und Vergangenheit, zwar klar getrennt, dennoch vermischen sie sich und die Leserschaft erhält einen Rundumeinblick in die maßgeblichen Ereignisse eines Lebens, das anfänglich in der DDR von Widerstand und später vom Gefühl des Gebrauchtseinmüssens geprägt ist.

Katja Lange-Müller ist eine Meisterin der Sprache. Das zeigt sich schon auf den ersten Seiten ihres im November 2016 erschienenen, sehr fein, klug und trotzdem lässig konzipierten Romans Drehtür. Sprache ist ihr wichtig. Sprachspiele machen Freude – und das Lesen dieser Sprachgewalt ebenso. Doch im Fall von Drehtür ist diese Sprachgewalt noch dazu so erfrischend, manchmal frech, dass man die inhaltlich nicht leichte Kost einfach nicht aus der Hand legen mag und kann. Hier greift alles großartig mit Leichtigkeit ineinander, dass die mögliche Schwere des Inhalts zwar nicht vergessen, aber abgemildert wird. Ein Kaleidoskop der Wirklichkeit, bunt gezeichnet und deshalb einladend.

Drehtür hat sich vollkommen berechtigt auf die Longlist des Deutschen Buchpreises 2016 geschwungen, und wer sich davon bisher noch nicht persönlich überzeugen konnte, sollte es alsbald tun. Und zwar auch deshalb, weil Katja Lange-Müller die Freude an der deutschen Sprache und ihren Möglichkeiten so wunderbar unprätentiös wiederbelebt.

„Gutsleberwurst, denkt Asta amüsiert. Was, Himmel, Arsch und Zwirn ist eine Gutsleber, eine verwurstete? Dabei weiß sie, dass es sich bei der Gutsleberwurst einfach um Leberwurst nach Gutsherrenart handelt, liegt nur schon wieder im Clinch mit ihrer Muttersprache, die sie sehr wohl beherrscht. Wer wen eigentlich? Trotzdem hadert sie weiter mit all diesen Wörtern, von denen sie seit sie ins Land der und des Deutschen zurückgekehrt ist, noch kein einziges über die Lippen gebracht hat. Aber selbst unausgesprochen und sogar unerhört klingen ihr deutsche Wörter immer wieder oder immer noch seltsam fremd in den Ohren, speziell die zusammengesetzten, vielmehr zusammengezurrten, Substantive, aus denen sich in dieser Sprache meterlange Girlanden winden lassen: Gutsleberwursterstkonsumentenbefragungsbögenauswertungsanalyseschlüsselbereitstellungsersuchen …“

Buchdetails

  • Aktuelle Ausgabe : 11. August 2016
  • Verlag : Kiepenheuer & Witsch
  • ISBN: 978-3-462-04934-3
  • Gebunden: 224 Seiten

6 Gedanken zu “Helfen – Wille oder Kunst?

  1. Ein tolles Buch, klug konzipiert, sprachlich unwerfend. Aber jetzt erhält sie ja den Günter-Grass-Preis … Hier ein Beitrag dazu – ein schönes Video ist dabei:
    http://www.ndr.de/kultur/buch/Katja-Lange-Mueller-erhaelt-Guenter-Grass-Preis,guentergrasspreis100.html
    Auch hier wieder ein wunderbarer Satz von ihr auf die Bemerkung, Günter Grass hätte gesagt, dass man beim Schreiben auch politisch sein soll: Das ist natürlich mit der Wurst nach dem Schinken geworfen.
    Diese Frau ist großartig!!

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  2. Zu Kirchhoff kann ich nichts sagen – aber Katja Lange-Müller hat mich echt überrascht. Das war zwar das erste Buch von ihr, das ich gelesen habe, aber sicher nicht das letzte. LG, Bri

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  3. Ich meine auch, dass dieser wunderbare Roman einen Platz auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises verdient hätte. Schließlich ist das angesprochene Thema auch ein sehr aktuelles. Schön, dass du auf dieses Buch aufmerksam machst. Viele Grüße

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  4. Tolle Besprechung – ja unprätentios, das trifft es gut. Im Nachhinein ärgert es mich noch mehr, dass anstelle dieses Romans die doch etwas schwülstige Prosa von Kirchhoff sich bei der Jury durchsetzte.

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