„Was passierte hier? Wieso lebten wir so? Warteten wir auf etwas? Und wenn es so war, wie konnten wir so geduldig sein? […] Worum es ging? Wir waren Freunde, nicht mehr als das. Und die Wartezeit, das war das Leben.“ S. 223f
Karl Ove Knausgård, der uns im vorherigen (dem dritten) Band „Spielen“ von seiner Kindheit erzählt hat, ist nun ein Jugendlicher, hat sein Abitur in der Tasche und geht für ein Jahr in ein Dorf ganz im Norden Norwegens, wo er an einer kleinen Schule als Aushilfslehrer arbeiten soll. Es ist der erste Weg in ein Leben als Erwachsener, der er unbedingt sein will und zu sein glaubt, obwohl er als Autoritätsperson von den nur wenig jüngeren Schülern kaum respektiert wird und sich nicht gerade erwachsen verhält. Im Grunde ist hier schon ganz klar, dass Knausgård nichts anderes will als Schreiben und Schriftsteller sein. Der Lehrerjob soll ihm die Möglichkeit bieten, sich daran ernsthaft zu versuchen. Und so entstehen denn auch erste Erzählungen in jenem Jahr, die er an Freunde und Verwandte verschickt und schließlich auch bei einem Schreibwettbewerb einreicht. Auf der anderen Seite gibt es aber ganz deutlich zwei andere Komponenten, die ihn vollends einnehmen und sein Leben bestimmen: Der Alkohol, ohne den Knausgård kaum ein paar Tage verbringt und der Wunsch, endlich mit einem Mädchen zu schlafen.
Karl Ove Knausgård ist inzwischen so etwas wie ein Superstar, gerade in der letzten Woche war er zu zwei sehr gut besuchten Lesungen in Hamburg und Berlin in Deutschland anlässlich des Erscheinens des 5. Bandes „Träumen“, der auf den hier besprochenen 4. Band „Leben“ folgt. Viele wollten diesen Mann sehen und vielleicht ein bisschen besser verstehen, was den Hype um ihn eigentlich ausmacht. Internet und Zeitungen sind voll von Berichten über ihn, einen scheuen Mann, der sein komplettes Leben, vor allem sein Innenleben, auf insgesamt ca. 4000 Seiten vor der Welt ausgebreitet hat, wobei, das wurde beim Gespräch mit ihm bei der Veranstaltung in Berlin einmal mehr deutlich, nicht alles tatsächlich genauso passiert ist. Seine Bücher sind Romane: Es könnte sich so oder ähnlich zugetragen haben.
Womöglich braucht es diese weitere Besprechung zu einem seiner Bücher an dieser Stelle nicht. Nahezu alle Artikel, die man über Knausgård findet, beschäftigen sich mit zwei Fragen: Erstens: Ist das große Literatur und muss man das wirklich lesen? Und zweitens, von jenen gestellt, die Nr. 1 mit Ja beantworten: Warum um alles in der Welt fasziniert Knausgårds Werk so, warum kann man nicht mehr aufhören, zu lesen, wird hineingezogen in diesen Kosmos, auch wenn das Lesen keinesfalls immer ein Vergnügen ist?
„Even when I was bored, I was interested.“ So schrieb der New Yorker zu Knausgård. Und trifft damit ziemlich genau meine Leseeindrücke zu Knausgårds Min Kamp 4, wie der Roman im Original heißt. „Leben“ umfasst ähnlich wie alle Bücher der Reihe um die 600 Seiten. 600 Seiten, die sich zum Großteil einerseits damit beschäftigen, einen Alkoholrausch nach dem anderen zu erzählen – selbstverständlich sehr detailliert, denn wir sind hier bei Knausgård – und andererseits die Gedanken und Wünsche des Protagonisten dahingehend wieder zu geben, dass er endlich Sex haben will. Er ist in „Leben“ zwischen 16 und 18 Jahre alt. Ihn interessiert sonst nichts, – vielleicht noch gute Musik und natürlich ist da immer der Wunsch, ein Schriftsteller zu sein, der über allem steht, aber im Großen und Ganzen habe ich ein 600-Seiten-Buch über Saufen und Sex gelesen. Ijoma Mangold erklärte auf der Veranstaltung zu Knausgård in Berlin die Faszination der Bücher des Norwegers damit, dass da einer schreibt, mit dem man sich identifizieren kann: Dadurch, dass er uns in seinen Gedanken und Gefühlen ähnlich ist (wenn auch extremer als die meisten von uns), werden wir in seinen Büchern immer wieder auf uns selbst zurückgeworfen und setzen das Gelesene zu uns selbst in Beziehung, bewerten es von einem persönlichen Standpunkt aus. Dies ist wohl auf der einen Seite der Grund, dass ich wie der Kritiker im New Yorker fasziniert und interessiert war. Auf der anderen Seite gehören Romane über die jugendlichen Gelüste pubertierender Jungs nicht gerade zu meinem bevorzugten Lesestoff. Nirgendwo sonst hätte ich so etwas lesen wollen. Nur bei Knausgård kann ich das überhaupt ertragen.
Natürlich ist „Leben“ viel mehr als das. Es muss einen Grund geben, warum ich das Buch nicht nach dem zweiten Alkoholexzess entnervt beiseite gelegt habe. Die stärksten Momente in Knausgårds Romanen sind die, in denen der Erzähler, der erwachsene Mann, erscheint und über sein jüngeres Alter Ego spricht und richtet.
„Er weiß nichts über das Leben, er weiß nichts über sie, er weiß nicht einmal etwas über sich selbst. Er weiß nur, dass er noch nie zuvor mit einer solchen Kraft und Klarheit geliebt hat. Alles schmerzt, aber nichts ist so schön. Oh, dies ist das Lied über einen Sechzehnjährigen, der in einem Bus sitzt und an sie, die Einzige, denkt, ohne zu wissen, dass die Gefühle langsam, immer langsamer matter und schwächer werden, dass das Leben, das jetzt so stolz und gewaltig daherkommt, unbarmherzig weniger und weniger wird, bis es eine handliche Größe erreicht hat – dann tut es nicht mehr so weh, aber dann ist es auch nicht mehr so schön.“ S. 201f
Sie sind nicht häufig, diese Einschübe. Die meiste Zeit erleben wir den jungen Karl Ove in seiner ganzen Naivität, ohne Distanz. Manchmal schmerzlich nah. In seiner ganzen Unsicherheit und der allumfassenden Scham. Scham, die bei Knausgård ein zentrales Thema ist, und die er durch eben jene Alkoholexzesse zu überwinden sucht.
Es wird immer die geben, die über den Kult um Karl Ove Knausgård nur den Kopf schütteln und die das Kochen von kannenweise Tee einfach nur langweilt, wie jüngst Christine Westermann im Literarischen Quartett beklagte. Und auf der anderen Seite die, die sich dem Sog seiner Bücher nicht entziehen können und längst süchtig nach ihnen sind. Besonders neugierig macht mich die Aussicht auf den 6. Band, der um die 1400 Seiten umfassen und sich mit den Auswirkungen des Romanprojekts auf Knausgårds Leben befassen soll. Auch um die Namensgebung des Zyklus nach Hitlers „Mein Kampf“ soll es darin gehen. Was „Leben“ angeht, kann man demjenigen, der Knausgård noch nicht kennt, eigentlich nur sagen: Versuch es. Du wirst ihm entweder verfallen oder Dich langweilen. Dazwischen scheint es nicht viel zu geben.
Buchdetails
- Aktuelle Ausgabe: 23. Juni 2014
- Verlag : Luchterhand Literaturverlag
- ISBN: 978-3-630-87413-5
- Gebundenes Buch: 624 Seiten
Das stimmt. Ich habe grade auch nicht den Drang, gleich mit Träumen weiter zu machen. Irgendwann, sicher. Allerdings haben mir die ersten beiden Bände auch besser gefallen als der dritte und der vierte. Mal schauen, wie es mit Nr. 5 sein wird….
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„Du wirst ihm entweder verfallen oder Dich langweilen. Dazwischen scheint es nicht viel zu geben.“
Schön ausgedrückt, sehe ich genauso. Hate it or love it! Ich gehöre zur Fraktion, die ihm nach den ersten zwei Büchern verfallen ist. Aber genauso etwas Abstand benötigt. Die komplette Reihe in einem Zug durchzulesen, halte ich für unmöglich. Nicht nur aus konditionellen Gründen …
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Ich warte einfach weitere Rezensionen deinerseits ab 😉
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Irgendetwas sagt mir, dass Du kein Fan wärst / wirst… 😉 Denis Scheck übrigens auch nicht, wie ich neulich erfuhr. Und wenn, dann würde ich doch empfehlen, mit „Sterben“ oder vielleicht noch „Lieben“ zu beginnen.
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Eine wunderbare Rezension, obwohl ich eine von denen bin die dem Leben des guten Mannes leserisch mit Verve ausweichen. Und doch, deine Rezis dazu sind so begeistert, das zermürbt ;))) Chapeau!
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Interessanterweise habe ich bei mir sogar das Gefühl, dass ich mich langweile und das sogar irgendwie gern und trotzdem verfallen bin…. dass in der „Langeweile“ auch gerade der Sog liegt…
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