Wir leben in holprigen Zeiten – tatsächlich wird im Moment die vormals scheinbar stabilste westliche Demokratie durch einen Präsidenten, der sich gerne selbst als König inszeniert und denkt, er würde über allem stehen, was einen demokratischen Rechtsstaat ausmacht, innerhalb kürzester Zeit impulsiv und ohne Plan niedergerissen. Die Geschichtsklitterung und die Verweigerung des Anerkennens von Fakten, die damit einhergehen sind erschreckend und haben weitreichende Auswirkungen. Menschenleben und die Existenz ganzer unabhängiger Staaten sind dadurch direkt gefährdet. Eigentlich hatten wir gedacht, das Motto #Niewieder und die Mahnungen derer, die die schlimmsten Zeiten des letzten Jahrhunderts erleben mussten und überlebt haben, hätten sich uns in die DNA geschrieben. Doch offensichtlich ist das nicht der Fall. Deshalb ist es um so wichtiger, dass wir eine Erinnerungskultur aufbauen, die nicht vertuscht, was passiert ist und die Menschen, die Opfer der entgrenzten Gewalt und des Hasses wurden, ins Zentrum stellt. Wie das gelingen kann? Darüber hat sich Asal Dardan in ihrem fundierten Buch Gedanken gemacht. Entstanden ist dabei eine mentale Topographie Deutschlands, die aufzeigt, wie stark die derzeitigen Strömungen in der Vergangenheit wurzeln.
Asal Dardan hat sich im Lauf der Zeit, seit der sie in Deutschland lebt, immer wieder gefragt, wie sehr die verschiedenartig gestalteten Mahnmale, im speziellen auch die für die Opfer des Terrorregimes des Dritten Reiches errichteten, tatsächlich den Opfern gerecht werden. Gedanken, die auch mir nicht fremd sind. Ich bin in Nürnberg geboren. Die Stadt ist untrennbar mit den Taten der NSDAP und nachfolgenden Tätern verwoben. In meiner Familie gab es sowohl Täter als auch Opfer des Naziregimes. Eine Tatsache, die wohl jede deutsche Familie betrifft. Als Jugendliche durch eine Stadt zu gehen, die bereits im 14. Jahrhundert durch den Gegensatz von Erneuerung, Freiheit, Unabhängigkeit und traditionellem Rat ins Wanken geraten und ein Judenprogrom zu verantworten hatte und vielleicht später auch deshalb von einem Diktator als Stadt der Reichsparteitage auserwählt wurde, war schon irgendwie schräg – und offensichtlich prägend. Weil es mir klar gemacht hat, dass unsere Zukunft nie ganz losgelöst von der Vergangenheit sein kann. Wie diese Zukunft aussieht, ist meiner Meinung nach – und das hat die Lektüre von Traumaland bekräftigt – abhängig davon, dass und wie wir uns erinnern und welche Muster wir dabei offenlegen.
Von den vielen Mahnmalen, die es in Berlin für die Opfer von Terrorherrschaft gibt, sind mir selbst, obwohl ich nun schon seit bald 20 Jahren in dieser Stadt lebe, vor allem Stolpersteine und das Holocaust-Denkmal im Gedächtnis. Letzteres wurde 2005 eröffnet, kurz nach meinem Zuzug nach Berlin. Initiiert wurde es allerdings schon ab 1988. Es sollte ein Mahnmal für die ermordeten Juden ganz Europas werden, geplant, erbaut und bezahlt von den Nachfahren der Täter, ohne Mitsprache der Nachfahren der Opfer. Dardan arbeitet in ihrem Buch heraus, dass dieses Vorgehen häufig immer noch der Fall ist und eben die Frage aufwirft, wem mit solch einer Erinnerungskultur gedient ist.
Stolpersteine heben einzelne Menschen aus der schieren Maße der Opfer von Terrorismus, Verfolgung aus unterschiedlichen Motiven und willkürlichem Hass heraus und werden vom Initiator der Aktion handgefertigt und manuell in einer Art Ritual verlegt. Damit entsteht in der Art dieses Erinnerns ein absoluter Gegensatz zur entmenschlichten Vernichtungsmaschinerie des Naziregimes. Andererseits gibt es noch viele Opfer mehr, von denen nicht einmal Namen oder Verbleib bekannt sind und die solch eine Würdigung niemals erfahren können.
Ich verdanke der Lektüre von Traumaland ein tieferes Verständnis für die Verstrickungen heutiger Vorkommnisse mit lang vergangenen Begebenheiten. Folgt man Dardan auf ihrer Spur, wird deutlich, das nichts von alledem, was jetzt passiert aus dem Nichts kommt. Und dass wir immer und immer wieder genau hinsehen müssen, wenn Menschen Opfer politisch motivierter Taten werden. Die Spuren führen über Länder, ja Kontinente immer wieder zu einem Ausgangspunkt. Dem rechtsradikaler Gesinnung.
Ob man diese Gesinnung durch Gegenwehr, durch Exil oder durch das sogenannte „innere Exil“ am besten Herr wird – da bin ich ein wenig anderer Meinung, als Dardan, die ein „inneres Exil“, wie es zum Beispiel Erich Kästner lange Zeit so halb auf sich nahm, nicht ganz gelten lassen will. Kästners „Blaues Buch“ wäre nie entstanden, wäre er, wie andere seiner Kollegen, ins vermeintlich sichere Exil gegangen. Dieses „Blaue Buch“ ist ein Zeitzeugenbericht aus nächster Nähe und hat mir gezeigt, wie schwierig es ist, die Motivation anderer tatsächlich zu verstehen. Ich denke, damals hat niemand für möglich gehalten, dass passiert, was passiert ist. Wir wissen es heute besser.
Genau deshalb ist es so wichtig, uns endlich gewahr werden, dass Deutschland nie eine Stunde Null hatte. Dass dieses Land immer noch Traumaland ist, weil zu viele Geschehnisse nicht wirklich aufgearbeitet wurden, weil zu viele Familien noch immer unter den erlittenen Traumata – im Osten ja doppelt – leiden. Traumata werden, das hat die Wissenschaft festgestellt, an zukünftige Generationen weitergegeben, in den genetischen Code geschrieben, werden sie nicht geheilt.
Traumaland ist ein Buch, das den Weg der Heilung durch das Aufwerfen einer längst überfälligen Debatte zur Erinnerungskultur weiterführen kann. Ein wichtiges Buch, ein auch in Teilen irgendwie Mut machendes und Trost spendendes Buch. Weil es durch das Erkennen von Mustern klar macht, an welchen Stellen wir tätig werden müssen.
Traumaland von Asal Dardan ist im Januar 2025 gebunden im Rowohlt Verlag erschienen. Zu mehr Information zum Buch über Doppelklick auf das im Beitrag abgebildete Cover oder auf der Verlagsseite.
