Jaap Hollander ist Neurochirurg und einer der besten auf seinem Gebiet. Allerdings praktiziert er nicht mehr und ist mehr als überrascht, als gerade er eine Anfrage erhält, die nicht einfach abzusagen ist. Seit zehn Jahren fährt er regelmäßig nach Israel, um nach seiner dort spurlos verschwundenen Tochter zu suchen. Hollander selbst ist Jude und seine Eltern waren kleine Leute, dass er, der Sohn, ein berühmter und anerkannter Neurochirurg wurde, hat ihn – nicht absichtlich – von seinen Wurzeln entfernt. Seine Tochter jedoch möchte die Religion ihres Vaters kennen lernen, durchdringen und hält sich deshalb für eine Zeit in Tel Aviv auf, von wo sie und ihr Freund einfach spurlos verschwinden.
Zunächst reist Hollander gemeinsam mit seiner Frau nach Tel Aviv, die Behörden lassen nichts unversucht, um die beiden jungen Menschen zu finden, müssen jedoch irgendwann aufgeben. Die Wahrscheinlichkeit, dass das junge Paar durch eine Überschwemmung ums Leben kam, ist hoch, doch Hollander kann nicht loslassen. Als er dann genau zehn Jahre nach dem Verschwinden Leas das Angebot, eigentlich viel mehr den Auftrag erhält, eine junge Frau zu operieren, die ohne die fast unmögliche Operation auf jeden Fall sterben wird, eröffnet sich für ihn die Möglichkeit, teure weitere Suchaktionen nach seiner Tochter vornehmen zu lassen.
Leon de Winter hatte die Geschichte zu diesem Roman nach eigener Aussage schon viele Jahre mit sich herumgetragen. Vielleicht nicht die ganze Geschichte, aber die Idee dahinter, die eine Utopie aufmacht, die hoffen lässt. Denn die junge Frau, die sein Protagonist Hollander operieren soll, ist nicht nur die Tochter eines der reichsten und mächtigsten Männer der arabischen Halbinsel, sondern könnte die ganze Region verändern. Dafür aber muss sie leben.
De Winter zeigt, dass Veränderungen in Gesellschaften auch für die, die an deren Spitze stehen, nicht einfach durchzusetzen sein können, wenn die Menschen, die die Gesellschaften bilden noch nicht so weit sind. Rahmenbedingungen lassen sich oft nicht einfach auflösen. Wir sehen das gerade alle nur zu deutlich. Und das, obwohl wir in einer vermeintlich aufgeklärten Region leben.
Dabei verzahnt er individuelles Leben und Erfahren mit mystischen Vorgängen und zeigt diese so glaubhaft, dass man als Leserin nicht so ganz genau weiß, auf welcher Bewußtseinsebene die Geschichte im Moment passiert. Das stört nicht im Geringsten, ganz im Gegenteil, der Roman erfährt dadurch und durch die einfach Tatsache, dass Hollander als Neurologe an die pure Wissenschaft glaubt, eine ungeahnte Tiefe. So muss Hollander doch auch einsehen, dass es zwischen Himmel und Erde Dinge gibt, die nicht nachvollziehbar erscheinen und unser Gehirn zu Leistungen fähig ist, die wir nicht verstehen.
de Winter bringt die großen Themen unseres menschlichen Daseins und deren Verschränkungen miteinander wunderbar zusammen. Gerade die uns unbewussten Lücken aufzudecken ist zwar oft schmerzhaft, aber eben auch heilsam. Bis zum Schluss war für mich nicht ganz klar, was nun Realität war und was nicht. Ein ganz besonderes Leseerlebnis, das ich jedem nur empfehlen kann.
Stadt der Hunde von Leon de Winter ist im Januar 2025 übersetzt von Stefanie Schäfer im Diogenes Verlag erschienen. Für mehr Infos zum Buch per Doppelklick auf das im Beitrag abgebildete Buch oder auf der Verlagsseite.

Danke vielmals, Bri, für diese aktuelle Besprechung der Neuerscheinung. Würde mich nicht wundern, wenn die „Stadt der Hunde“ hier oder da medial auftaucht und mir in der Stadt begegnet. Viele Grüße, Bernd
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