Indigene Dystopien und Science-Fiction aus Kanada

Der kanadische Autor Michel Jean, der mich schon mit seinen Werken Kukum und Maikan heuer sehr positiv überrascht und begeistert hat, ist mit WAPKE ein neuer grandioser Wurf gelungen. In dieser Kurzgeschichtensammlung fungiert er hauptsächlich als Herausgeber und bietet indigenen kanadischen AutorInnen der First Nations, hauptsächlich Inuit, eine Plattform, ihre Shortstory zu veröffentlichen.

Ich habe ja oft Probleme mit Kurzgeschichtensammlungen, wenn diese thematisch nicht konsistent sind und wie eine wild zusammengewürfelte, aus der Rundablage zusammengestellte Collage an Schreibabfällen ohne Ausrichtung scheinen, die es einfach nicht in einen richtigen Roman geschafft haben. Dies ist hier definitiv nicht der Fall, denn fast alle 14 Geschichten haben ein zentrales Thema: Sie spielen in der Zukunft, sind manchmal Science-Fiction, öfters aber auch Dystopien, die sich sehr zeitnah in den nächsten fünfzig Jahren abspielen. Auch die Qualität ist größtenteils extrem hoch, die meisten Werke weisen im Plot, obwohl sie so kurz sind, einen grandiosen Spannungsbogen auf, der sehr oft in einem überraschenden Ende gipfelt. Dieses Experiment ist also hervorragend gelungen.

Lediglich zwei Geschichten haben mir nicht gefallen, dazu zählt die erste, die zu wenig Spannungsbogen im Plot aufweist und leider – sorry to say – lieber Michel Jean auch Ihre Shortstory ist gar nicht gut. Erstens, weil sie thematisch überhaupt nicht ins restliche Konzept passt, sie ist mehr Fantasy der Vergangenheit und spielt als einzige nicht in der Zukunft und zweitens, weil auch hier der Plot langweilig ist. Besser wäre gewesen, Jean hätte sich verkniffen, hier auch als Autor mitzumischen und wäre ausschließlich in seiner ausgezeichneten Arbeit als Herausgeber aufgegangen.

Ganz schön viele Dystopien handeln vom kommenden Klimakollaps und wie die Völker der First Nations, wie zum Beispiel die Innu, in dieser feindlichen Welt endlich wieder zu ihrer alten Form auflaufen, weil sie ein verschüttetes historisches Vermächtnis besitzen, das sie reaktivieren können: Nämlich das Nomadenleben im Einklang mit der Natur und mit Mutter Erde und nicht die technokratische Welt der sogenannten Zivilisation gegen jegliche natürlichen Ressourcen. Mitunter wird nach dem Abschmelzen der Polkappen und den daraus resultierenden Überschwemmungen auch eine neue Eiszeit in Kanada prognostiziert.

In einigen Geschichten werden auch die historischen Traumata des Landraubs, des Kinderraubs, der Deprogrammierung und Umerziehung ganzer Generationen hin zu zivilisierten Nachkommen sehr kreativ aufgearbeitet. In einem Werk wird sogar beginnend mit der Corona-Pandemie und Justin Trudeau die Entwicklung hin zum totalitären orwellschen Staat geschildert, in der nichts Ursprüngliches der First Nations, weder Geschichte, Sprache, Naturverbundenheit etc. mehr existieren darf. Das ist so gut.

Der Premierminister handelte anfangs wie ein Familienvater, aber im Laufe der Zeit übertrieb er die Maßnahmen und bevormundete die Bevölkerung, Unter seiner Regierung unterwarf der Staat die Bürger einer reglementierten Lebensweise. Die Hegemonie setzte sich nach und nach durch, da alle sich damit abfanden und sie nicht in Frage stellten. In dem Wunsch, „seinen Beitrag zu leisten“, gehorchte jeder Bürger willig den neuen, zunächst aus gesundheitlichen Gründen aufgezwungenen Regeln. Aber zwei Jahre später musste man feststellen, dass die Demokratie nicht mehr existent und dass Absolutismus herrscht.

Auch das Trauma der Zwangssterilisierungen wird verarbeitet und transformiert, selbstbestimmte Gebärstreiks unter den indigenen Frauen sind auch mehrmals ein Thema. Am besten hat mir eine Virusgeschichte gefallen. Die Natur wehrt sich gegen den Menschen, der sie zerstört. Die weißen Kinder werden plötzlich mit blauer Haut geboren, das neue Virus hat jedoch keinen Einfluss auf die Völker der First Nations Kanadas. Sofort werden erneut die indigenen Kinder geraubt, in Laboren untersucht, gequält und seziert, um herauszufinden, wie das Virus wirkt. Durch eine alte historische Innu-Schrift kommt raus, dass so ungefähr um die Jahrtausendwende unserer Zeit, indigene Ärzte menschliche DNA mit Tieren vermischt haben. Aus diesem Grund sind die indigenen Kinder nicht vom Virus befallen. Wenn jedoch ein weißer Mensch der technokratischen Lebensweise abschwört und im Einklang mit der Natur lebt, wird er geheilt. Das ist doch ein wundervoll konzipierter Plot-Twist, die Erde rächt sich an jenen, die sie nicht schätzen.

Ein paar der Stories sind auch zentral in ferner Zukunft, also in der Science-Fiction verortet. Da gibt es eine von Matrix inspirierte Gesellschaft, in der Menschen in Nährlösungen in virtuellen Welten verweilen, was sehr teuer ist, die richtig armen Leute müssen die Systeme auf einer kollabierenden Erde warten und die Leichen entsorgen, wohingegen die obersten Zehntausend auf Inseln im Orbit und Ersatzplanenten das sinkende Schiff bereits verlassen haben. In einer anderen Welt gibt es Zeitreisen und indigene Götter versuchen, eine religiöse Elite davon abzuhalten, die Vergangenheit gemäß ihrer Vorstellungen zu ändern.

Einen Kritikpunkt möchte ich verlagsmäßig noch anfügen. Der Wieser-Verlag ist ja bekannt dafür, alle Beteiligten an einem Buch gleichermaßen zu würdigen. Das ist diesmal nicht ganz so gut gelungen, denn es werden zwar von allen die Biografien präsentiert, aber nur vom Herausgeber Michel Jean und vom Haupt-Übersetzer existieren Fotos. Ich hätte gerne auch von allen Innu-AutorInnen und den ÜbersetzerInnen Bilder gehabt. Abgesehen davon, dass es mich interessiert, wie die SchriftstellerInnen aussehen, sieht das auch optisch dann viel gleichberechtigter aus, wenngleich es organisatorisch wahrscheinlich eine Herausforderung sein mag.

Fazit: Dramaturgisch und sprachlich eine Sammlung von Kurzgeschichten höchster Qualität, die ich wirklich jedem ans Herz legen möchte. Gratulation auch zur Idee für dieses konsistente Konzept. Der gesamte Band ist fast (bis auf die zwei Einschränkungen) ein Werk aus einem Guss und mit einer Ausrichtung. Wärmste Leseempfehlung!

WAPKE von Michel Jean ist im Wieser Verlag als Hardcover erschienen. Nähere Infos zum Buch über einen Klick auf das Cover im Beitrag oder auf der Verlagsseite.

Ein Gedanke zu “Indigene Dystopien und Science-Fiction aus Kanada

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