Schon immer sind wir Menschen auf der Suche nach einem Ort, an dem wir frei, friedvoll und gut leben können. Werden die äußeren Lebensumstände zu schlecht, ziehen wir weiter, denn unsere Kinder sollen es gut haben oder sogar besser als wir. Gibt es keine Freiheit, sei es im Denken oder Tun, dann wird es eng. Unterschiedliche Menschen reagieren darauf natürlich mit unterschiedlichen Strategien. Innere Emigration nennt man es, bleibt man trotz widrigster äußerer Umstände, die in Meinungsfreiheit, Repression, Gewalt und ähnlichem bis schlimmeren enden, dort wo man geboren wurde. Von Glück kann man sprechen, haben wir ein Dach über dem Kopf und eine gewisse Sicherheit, dass es uns bleiben wird ; dass wir auch morgen vor die Tür treten zu können, ohne Angst haben zu müssen, nicht zu wissen, woher wir sauberes Trinkwasser, gesundes Essen oder einfach ein wenig Geld dafür bekommen, um uns über Wasser halten zu können. Wir wissen nicht genau, was uns antreiben würde, unsere Heimat, so wir etwas haben, was wir so nennen, zu verlassen. Auf der Suche nach einem besseren Sein. Dass sich viele Menschen so etwas wünschen, ein besseres Leben, ist nur legitim. Dazu hat prinzipiell jeder das Recht, der Mangel leidet. Der Ort, an den man sich in der Hoffnung auf ein gutes Leben begibt, ist manchmal weit entfernt und oft unbekannt.
Dass Flucht, Auswanderung, Emigration das Leben der Betroffenen nicht nur zeitweise prägen, davon weiß Ilija Trojanow klug und eindrücklich in seinem kürzlich bei S. Fischer erschienen Buch Nach der Flucht zu berichten. Ein fundierter und äußerst lesenswerter Beitrag dazu ist bei Kaffeehaussitzer erschienen. Er macht klar, weshalb sich Menschen entscheiden, ihre Heimat zu verlassen und was das für sie heißt – ein Leben lang. Dass das keine neue Erscheinung ist, wird ebenso deutlich.
In den Fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts kamen viele, vor allem männliche, Einwanderer aus der Karibik nach London, das sie „das Zentrum der Welt“ nannten, um dort Arbeit und ein besseres Leben zu finden. Ihre Heimatländer waren Teil des Britischen Empire, und so sind sie noch nicht einmal als Fremde zu bezeichnen. Englisch sprachen sie alle, wenn auch nicht akzentfrei oder perfekt. Und dennoch wurden sie wegen ihres andersartigen Aussehens als „Mokkas“ bezeichnet. Aus der karibischen Sonne kommend erfuhren sie vor allem eines: Kälte, Sommers wie Winters, und Einsamkeit. Und das, obwohl man sie eigentlich gerufen hatte. Sie waren die ersten Einwanderer Englands, so etwas wie die in der BRD der Nachkriegszeit als „Gastarbeiter“ bezeichneten Menschen aus südeuropäischen Ländern, die halfen, das Land in das später viel gelobte „Wirtschaftswunderland“ zu verwandeln.
Samuel Selvon, selbst 1923 in Trinidad geboren, war einer von ihnen. Er jedoch gab ihnen mit seinem wunderbaren Roman „Die Taugenichtse“ (Originaltitel „The Lonely Londoners“) eine unverkennbare Stimme. Zwar ist der Roman schon 1956 erschienen, doch nun liegt er erstmals in einer hervorragenden Übertragung von Miriam Mandelkow auch auf Deutsch vor. Seine Figuren erscheinen unglaublich plastisch, frisch von den Londoner Straßen weg in den Roman transferiert. Natürlich sind sie anders, verhalten sich anders als die „eingeborenen“ Briten. Schon das Klima, in dem sie aufwuchsen – Sonne, Wärme, umgeben vom Meer – ist ja ein ganz anderes und lässt vermuten, dass unter solchen Umständen ein etwas anderes Weltbild in den Köpfen der Menschen entsteht, als im kühlen Nebel der Großstadt.
Was die Einwanderer Selvons in London erleben, ist nicht alltäglich, obwohl sie sich doch einfach nur bemühen, den Takt der Großstadt mitzugehen. Die Stimme, die Selvon seinen Protagonisten, die solch klingende Namen tragen wie Moses, Big City oder Fünf-nach-zwölf, verleiht, ist kreolisch. Das gibt dem Roman eine ganz eigene Atmosphäre, die scharfe Bilder im Kopf entstehen lässt. Auch wenn die einsamen Londoner allesamt etwas schelmenhaftes an sich haben, so wirken sie doch nie ganz verschlagen oder gar hinterhältig. Eben eher wie Menschen, die den Ernst ihrer Lage nicht wahrnehmen können. Wollen vielleicht schon, doch können eben nicht. Eine gewisse Unschuld haftet ihnen an, auch wenn man ihre Handlungsweisen – gerade als Frau – nicht durchgängig nachvollziehen kann. Immerhin zeigt Selvon seine Landsleute ungemein ehrlich und aus ihrer eigenen Perspektive, das alleine ist überraschend frisch und zeigt, wie modern der Roman bei seiner Entstehung war. Glücklicherweise ist er jetzt auch für uns Leser im deutschsprachigen Raum verfügbar.
Eine weitere Besprechung dieses außergewöhnlichen Romans ist bei Die Buchbloggerin zu finden.
Buchdetails:
- Aktuelle Ausgabe : 05. Mai 2017
- Verlag : dtv Verlagsgesellschaft
- ISBN: 978-3-423-28117-1
- Gebunden: 176 Seiten
Wobei die Hintergründe hier keine allzu große Rolle spielen. Es geht hier tatsächlich um das Leben in London. Die alltäglichen Kämpfe um Arbeit etc. Aber es hat etwas ganz Eigenes – eben wegen der kreolischen Sprache und einer gewissen Nonchalance einzelner Figuren. Wünsche auf jeden Fall viel Spaß mit dem Buch! LG
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Genau, an Indien dachte ich auch sofort. Mir war bewusst, dass es vor allem in London zu großen Einwanderungen aus der Karibik kam, jetzt kann ich mal die Hintergründe „erlesen“ 🙂
Vielen Dank und liebe Grüße
Torsten
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Gerne! Da hast Du Recht. Mir war nicht mal so recht bewußt, wer alles dem Empire angehört. Dass die Menschen aus der Karibik die ersten waren, die nach London respektive England kamen, um dort zu arbeiten und zu leben, hätte ich auch nicht gedacht. Ich dachte zuerst immer an Indien, wie bei uns in Deutschland meist an die Türkei gedacht als erstes Herkunftsland der sog. „Gastarbeiter“ gedacht wird. Dabei waren die ersten Menschen, die explizit als Arbeitnehmer kamen, Italiener. LG, Bri
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Hallo Bri,
klingt sehr interessant. Ein Thema, welches hier in Deutschland sicherlich nicht sehr bekannt ist. Vielen Dank!
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