Vielerorts wird beklagt, dass die Magie verschwunden ist. Früher (früher war sowieso alles besser, schöner etc.) in der vordigitalisierten Zeit hatte der Moment, die Situation, das Leben noch Magie. Heute ist alles nüchtern, reglementiert und überwacht. Die Magie der Welt ist verschwunden. Ist das wirklich so? Oder warten die Menschen, dass irgendjemand ihnen eine ‚Magie-App‘ zur Verfügung stellt, um durch Fingertapps die Magie aufleben zu lassen? Dabei ist die Magie überall um uns, wir müssen sie nur finden. Die Magie eines Lächelns, das Schaudern des Verstehens, das Wohlgefühl des Berührt-Werdens, die Wohltat der Natur. Und die Magie des Buches.
Es gibt nicht so viele Bücher, die in mir diese Art der Magie erzeugt haben, wie In einer anderen Welt von Jo Walton. Eine Magie, die bis in meine Kindheit zurückreicht und meine damaligen Gedanken und Gefühle sehr gut beschreibt. Das Gefühl des Aufwachsens und das Gefühl, dass es niemanden gibt, der dich wirklich versteht. Versteht, dass man so alleine auf dieser kalten Welt ist. Doch, wie Jo Walton in ihrem Vorwort an Heranwachsende schreibt, es wird besser.
Das Buch ist ein Tagebuch. Das Tagebuch der fünfzehnjährigen Morweena, die einen Schicksalsschlag erlitten hat und vor ihrer Mutter zu ihrem ihr fremden Vater geflüchtet ist. Dieser wohnt bei seinen sonderbaren Schwestern, die sein Leben bestimmen. Morweena hatte eine Zwillingsschwester, die bei einem Unfall gestorben ist, und der Morweena an ihrem Bein verkrüppelt hat. Schon die Adoleszenz verlangt den Jugendlichen viel ab, durch ihre Verkrüppelung wird Morweena zu einem Außenseiter. Sie flüchtet in die Welt der Bücher, genauer in die Welt der Fantasy und Science Fiction. Da das Buch Ende der siebziger Jahre spielt, eine der Hochzeiten des Genres, kommt der Leser in den Genuss der (jedenfalls für mich, da ich auch in dieser Zeit dieses Genre angefangen habe zu verschlingen und zu lieben) Science Fiction Schriftsteller, die das Genre so entscheidend geprägt haben.
Morweenas Kontakte zu Gleichaltrigen sind sehr begrenzt. In dem Internat, in das sie geschickt wird, ist sie eine der drei besten Schülerinnen, dadurch erlangt sie einen unnahbaren Status. Dennoch kann sie die aufkommenden Gefühle ihres Körpers nicht verleugnen.
„Er lächelte. Er hatte ein nettes Lächeln, ganz anders als wir. Zeit meines Lebens war mir erzählt worden, dass wir ihm ähnlich sehen, aber ich finde das nicht. Wenn er Lazarus Long ist, und wir Laz und Lor sind, dann müsste ich mich doch in ihm wiedererkennen. Aus unserer Familie haben wir niemanden ähnlich gesehen; von der Augen-und Haarfarbe abgesehen, sehe ich allerdings auch keine Übereinstimmung zwischen ihm und mir. Aber das spielt keine Rolle. Ich habe Bücher, neue Bücher, und solange ich Bücher habe, kann ich alles ertragen.“
Der Leser wird immer mehr in den dichten Sog des Buches gezogen. Nach und nach werden die Ereignisse der Vergangenheit offenbart, zaghaft tastet sich Morweena an die schrecklichen Erfahrungen, die zu ihrer jetzigen Situation führten, heran. Wichtig ist ihr die Magie. Sie sucht die Nähe der Elfen, Fabelgeschöpfen mit denen sie auch reden kann, in ihrer Sprache, die interpretiert werden muss. Hier zeigt sich die große Begabung von Jo Walton. Den beschriebenen Wesen wird keine Rahmenhandlung gegeben, sie sind fragil, durchscheinend, tauchen nicht wirklich auf, man kann viele Stellen der Gespräche und Beschreibungen der Wesen auch als Hirngespinste Morweenas interpretieren. Was geht in so einem Kopf vor? Ist sie traumatisiert wegen des Todes Ihrer Zwillingsschwester? Was ist Magie?
„Klassenzugehörigkeit ist nichts Greifbares, und wie sie unser Leben beeinflusst, lässt sich nicht wissenschaftlich analysieren, und eigentlich soll es sie gar nicht geben, aber sie ist mächtig und allgegenwärtig. Sehen Sie? Wie Magie.“
Magie ist eine in der Realität verwurzelte Symbolik oder erscheint diffus und nicht greifbar. Genau so werden die Elfen beschrieben. Nicht einheitlich, nicht greifbar, nur aus den Augenwinkeln bemerkbar. Besser wird die Situation für Morweena, als sie ihren Karass findet (Ein Begriff aus Cat’s Cradle von Kurt Vonnegut), eine Gruppe von Gleichdenkenden, die wöchentliche Treffen veranstalten und Themenabende über Science Fiction abhalten.
Bezüglich der Covergestaltung hat der Golkondaverlag ein glücklicheres Händchen als Randomhouse bewiesen, bei denen das Buch im August 2016 als Taschenbuch erschien. Was die irritierten Rezensionen zeigen. Ein nachdrückliches, ernstes und dichtes Buch, das sicherlich nicht ganz dem gängigen Jugendbuch entspricht. Nein, das ist kein typisches Buch von einem heranwachsenden Teenager. Wer bei den erwähnten Science Fiction Büchern nicht mitkommt, dem entgeht die halbe Magie. Und wer bei den sehr introvertierten Tagebuchschilderungen des Kampfes gegen die Pubertät von Morwenna Handlung vermisst, dem entgeht die zweite Hälfte der Magie. Ein wunderschönes empathisches Buch, das nicht ganz einem Genre zuzuordnen ist. Vielleicht kann man einfach sagen, es ist ein Magiebuch.
Among Others wurde 2012 mit dem Hugo Award dem Nebula Award sowie dem British Fantasy Award ausgezeichnet. Ein Buch, das sich nicht nur Fans des Genres nicht entgehen lassen sollten.
Buchdetails:
- Aktuelle Ausgabe : März 2013
- Verlag : Golkonda
- ISBN: 978-3-942396-75-2
- Klappenbroschur: 300 Seiten
Jedenfalls wirst du viele neue Anregungen aus der guten alten Zeit bekommen. Ich war selber erstaunt wie viele Schriftsteller und deren Bücher ich verpasst habe.
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Ich lungere zwar mehr in der Sci-Fi Ecke als in der Fantasy herum, aber das Buch klingt wirklich gut – danke für den Tipp 🙂
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