Die junge Grace schreibt im Jahr 2011 an ihrer Dissertation über Probleme alleinerziehender bzw. lediger Mütter in der Literatur und stößt dabei auf einen Roman mit dem Titel „Kindes Kind“. Ein Roman aus dem Nachlass eines Schriftstellers, nie veröffentlicht, da er nicht nur von einem 15-jähriges Mädchen, das ungewollt schwanger wird, erzählt, sondern auch von ihrem homosexuellen Bruder.
Im frühen 20. Jahrhundert war es in England nicht möglich, seine Homosexualität frei auszuleben. Ebenso war es eine Schande, als Frau unverheiratet schwanger zu werden. Konnte man der Situation nicht durch eine schnelle Heirat Abhilfe schaffen, war das Schicksal der Frau besiegelt, nicht selten musste sie sich allein mit dem Kind durchschlagen, konnte nicht auf die Hilfe ihrer Familie hoffen und wurde von Nachbarn und Dorfbewohnern geächtet. So jedenfalls die Situation in „Kindes Kind“, dem Roman, den Grace von einem Bekannten erhält, um ihn zu lesen und zu prüfen, ob er zur Veröffentlichung geeignet ist. „Kindes Kind“ heißt auch der letzte Roman der englischen Autorin Barbara Vine (alias Ruth Rendell), die im Mai 2015 verstarb.
Zunächst einmal stehen in Vines Roman Grace und ihr Bruder Andrew im Fokus, auch er homosexuell. Im 21. Jahrhundert muss er sich nicht mehr verstecken – aber ist er wirklich gesellschaftlich voll akzeptiert? Grace und Andrew erben das Haus ihrer Großmutter und ziehen gemeinsam dort ein, was gut funktioniert, bis Andrew sich verliebt. Bald kommt es zu Problemen zwischen den Geschwistern, als Andrews Freund ebenfalls einzieht.
Formal gliedert sich Vines Roman in eine Rahmenhandlung, die die Geschichte von Grace, Andrew und James erzählt und in eine „Binnenhandlung“, den Roman im Roman (in dem aber niemand aus der Rahmenhandlung auftritt): „Kindes Kind“. Beide Geschichten haben mich gut unterhalten: Vines Stil ist einfach gehalten, aber nicht simpel oder platt, der Roman liest sich schnell und birgt – zumindest in der Rahmenhandlung – Identifikationspotential. Die Themen sind hier wie dort eine Geschwisterbeziehung, Homosexualität und die Frage, in wieweit sie respektiert wird, sowie die Frage des Status von Alleinerziehenden. Ich habe den Roman in kürzester Zeit gelesen, weil Vine es versteht, mein Interesse aufrecht zu erhalten, weil sie ihre Themen von verschiedenen Seiten beleuchtet, durchaus auch Spannung aufbaut, was den weiteren Verlauf der Geschichte angeht, weil sie vor allem in der Rahmenhandlung authentische Charaktere schafft.
Der Roman im Roman fällt dagegen etwas schwächer aus, und es wäre interessant zu wissen, wie die Frage, die sich Grace stellt, im wahren Leben beantwortet worden wäre: Würde man die Geschichte, wieder entdeckt vom Sohn eines Schriftstellers, der diesen zu Lebzeiten aufgrund des brisanten Themas nicht veröffentlicht hatte, nun herausbringen? Womöglich nicht. Dabei ist auch diese Geschichte unterhaltsam und sie zeigt sicherlich nicht unrealistisch auf, wie es einer jungen ledigen Mutter in den 1930er Jahren ergeht, wie ihr Bruder mit der Tatsache seiner Homosexualität umgeht und damit, dass er kaum eine andere Wahl hat, als sie zu verstecken. Die Figurenzeichnung ist hier allerdings weniger gekonnt als in der Rahmenhandlung. Dass die Figuren keine Sympathieträger sind, sagt nichts über die Qualität eines Romans aus, kann seine Qualität nicht schmälern. Wenn sie aber wie hier die junge Maud kaum Facetten besitzen, dann sieht die Sache anders aus.
Beide Teile stehen abgesehen von der offensichtlich sehr ähnlichen Thematik in keinem zwingenden Zusammenhang. Wir lesen das, was Grace liest, wir vergleichen ihre Situation mit der in „Kindes Kind“ aber darüber hinaus berühren die Geschichten sich nicht. Der Roman im Roman ist eine Fiktion. Die Rahmenhandlung wird dann auf wenigen Seiten seltsam eilig zu Ende gebracht.
Diese Kritik schmälert nicht die Tatsache, dass ich den letzten Roman Barbara Vines gern gelesen habe. Ich kenne einige ihrer Romane (nur die, die unter dem Pseudonym Barbara Vine erschienen sind, nicht aber die Krimis als Ruth Rendell) und immer jene unterschwellige Spannung gespürt, diese Ahnung, dass etwas passieren wird, sich etwas zusammen braut, ohne eine Idee, was das sein könnte. Hier war das anders. „Kindes Kind“ liest sich eher wie eine Sozialstudie, über Beziehungen zu Geschwistern, zu Geliebten, auch zur restlichen Familie. Über die Gesellschaft damals wie heute. Schade, dass keine weiteren Romane der Autorin folgen werden.
Buchdetails
- Aktuelle Ausgabe : 28. Oktober 2015
- Verlag : Diogenes Verlag
- ISBN: 978-3-257-06946-4
- Leinen, gebunden 368 Seiten