Wer wünscht sich das nicht: Irgendwann in seinem Leben überkommt doch die meisten das Gefühl, ja sie fragen sich, was würde ich tun, was gäbe ich dafür, noch einmal von vorne anzufangen.
Angelina Niemann, eine einfache Frau in Frankfurt, die ihr Geld vom Sozialamt bekommt und mit Putzen etwas dazuverdient, stellt sich zwar nicht diese Frage, bekommt die Chance aber unverhofft, mittels einer ungesicherten Lampenfassung, beim Glühbirnen wechseln. Gefunden wird sie, am Ende der Leiter liegend, in seiner Wohnung, von Christian von Schöchting, ein aufstrebender Juniorchef in einer Kanzlei in Frankfurt. Eine illegale Putzfrau, schwarz bezahlt und von ihm beschäftigt:
„Sein Lächeln stülpt sich auf links, er spürt eine chemische Reaktion in seinem Innern ablaufen und das was er da spürt, ätzt.“
Was macht das mit seiner Karriere? Ein großer Deal mit Amerika steht bevor, sowieso hat er zwischen Termin und Flug gerade noch Zeit einen Rettungswagen zu rufen.
Noch nicht einmal ihren Namen weiß er. Besuchen will er sie auch, doch nur, um ihr einzuschärfen, nichts Unbedachtes zu erzählen. Viel Zeit hat dieser vielbeschäftigte Mann nicht und wenn er mal unverhofft eine halbe Stunde Freiraum bekommt…
“… doch je näher er sich dem Zentrum nähert, desto dichter wird der Verkehr und die halbe Stunde bleibt fetzenweise an den roten Ampeln der Frankfurter Innenstadt hängen.”
Im Krankenhaus die große Überraschung, Angelina Niemann hat bei dem Stromschlag und Sturz ihr Gedächtnis verloren, Menschen aus ihrer Umgebung sind ihr fremd, ihr Wesen hat sich verändert. Sie erlebt ihr Leben neu und anders:
„Die Abendvögel klingen anders als die Morgenvögel, wie wenn die Welt jetzt größer und die Vögel weiter voneinander entfernt wären, so weit, dass sie in verschiedenen Sprachen miteinander reden würden.“
Das Aufeinandertreffen mit ihrer alten Welt gerät für sie und alle Beteiligten zu frustrierenden Erlebnissen:
„… und sie (Angelina) fragt sich, ob das vielleicht immer so sein wird, bei mir, dass ich nicht fühlen kann, was ich fühlen müsste und für den Rest meines Lebens nur am falschen Ort sein kann.“
Behutsam und poetisch führt Eva Baronsky ihre Heldin in die neue Welt ein. Wie in ihrem verträumten, lyrischen Debüt „Herr Mozart wacht auf“ sind Farben und Musik wichtig in dem neuen Leben von Angelina. Dabei ist hier nicht Mozart der bekannte Held des Buches, dessen Affinität zu Musik sicher angenommen werden kann, sondern eine über das erste Drittel des Buches namenlose Analphabetin aus dem einfachen Volk. Ihren Gedanken gegenüber steht die Sicht des erfolgreichen Geschäftsmannes Christian von Schöchting, der trotz allen Geldes, oder gerade wegen des Geldes, weder Privatleben noch Freunde hat – von Zeit ganz zu schweigen.
In abwechselnden geschilderten Sichtweisen führt sie den Leser in das Leben beider ein – und es sind Parallelen zu erkennen. Beide möchten etwas ändern, ihr bisheriges Leben empfinden sie als unzulänglich. Der einzige Unterschied ist, dass Angelina von Null anfängt. Ihr Leben ist plötzlich voller Musik und Farben und unbekannter Menschen, Christian von Schöchting ist in einem Umfeld des Geldes, das mit Macht, Kampf und böswilliger Hinterlist gefüllt ist. Weiter kommt nur der Gerissenste – und er will dazu gehören, doch die private Leere in seinem Leben macht ihm zu schaffen. Vorsichtig beginnen sich beide einander zu nähern, weich und farbig vermittelt Eva Baronsky dem Leser diese poetische Märchengeschichte. Doch die Zuckerwatte ist mit vielen realen Fallen gespickt und eine zweite Chance auch mit viel Arbeit und Verlust. So gerät das Ende fast wie in einem Hollywood Film, tragisch, aber unkitschig und schlüssig.
Ein träumerisches und lyrisches Buch von Eva Baronsky, welches märchenhaft und einfühlsam den steinigen Weg zur Veränderung beschreibt. Fast ein Kammerspiel, das Buch bleibt nah bei den beiden Hauptfiguren und taucht tief in deren Innenwelt ein.
„Manchmal rot“ erscheint die neue Welt für Angelina und beschreibt feinfühlig das Erwachen eines neuen Lebens.
Buchdetails
- Aktuelle Ausgabe : 13. Februar 2015
- Verlag : Aufbau Verlag
- ISBN: 978-3-351-03416-0
- Gebunden: 352 Seiten