Es war in den Wogen des letzten Sommers, als ich in der Friedrichstraße mit einer festen Absicht ins Kulturkaufhaus Dussmann hineinstürmte. Ich mußte dringend Bücher kaufen. – Und zwar nicht zu knapp.
Da sah ich es auch schon liegen und wusste auf Anhieb, daß es gut sein würde, dieses Buch zu lesen.
Das Erscheinungsbild besaß Stil. Die Farbe, der Schriftzug, die Aufmachung auf dem Cover dieses gebundenen Werks sagten eindeutig, daß dieses Buch auch für mich geschrieben worden sei.
Also griff ich mir ein Exemplar und ich bin weit davon entfernt, irgendetwas davon zu bereuen.
Denn „Zur See“ von Dörte Hansen ist nichts anderes als ein echtes literarisches Juwel.
Glücklicherweise liegt es mir in der illustrierten Geschenkausgabe des Penguin Verlags vor.
Einer liebevoll gestalteten Edition.
In ihrem Werk nimmt uns die Autorin mit auf eine Nordseeinsel „in Jütland, Friesland oder Zeeland …“ (S.9 Zeile 1) und spürt der Zeit nach, die hier und da noch sichtbare Spuren zeigt, die bis zu der längst vergangenen Epoche der Grönlandfahrer zurückreichen. Als man auf den Inseln noch auf Walfang angewiesen gewesen war und mit dem beginnenden Frühjahr in Richtung Arktis aufbrach, um erst im Herbst zurückzukehren. – wenn überhaupt.
Dörte Hansen führt die Leserschaft anhand einzelner Mitglieder einer alteingesessenen Inselfamilie ein und beleuchtet jede Person auch aus den Perspektiven der anderen Familienmitglieder.
Familie Sanders war schon immer auf die eine oder andere Weise mit der See verknüpft gewesen.
Dörte Hansen ergeht sich nicht im endlosen Geplapper seitenlanger Beschreibungen und Erklärungen; sie stellt fest. Beinahe lakonisch und abgeklärt. Dabei jedoch ungemein poetisch. Woraus ein bestechender Stil erwächst.
Punktgenau und wertfrei arbeitet sie die einzelnen Geschichten auf und setzt sie nach und nach in Verbindung mit den Leben der anderen Familienmitglieder.
Eine Mutter, zwei erwachsene Söhne, eine erwachsene Tochter, ein Vater.
Obwohl sie miteinander verwandt sind, gibt es keine wirkliche Kommunikation zwischen diesen Menschen. Eine kultivierte Form der Nichtkommunikation oder des Unvermögens Gefühle, Bedürfnisse, Vorstellungen mitzuteilen, bestimmt das Miteinander. – wenn es denn ein solches gibt.
Selbst der näher begleitete Inselpastor muß vor der Wucht dieser innerfamiliären Trennlinien kapitulieren. Und dies nicht nur bei Familie Sanders.
Zwischen Tradition, Geschichte und auch dem damit verbundenen Stolz auf das Inseldasein und den Tücken einer schnelllebigen Moderne versucht sich jeder auf seine Weise zu verorten.
Viel Unausgesprochenes schwingt in den Leben der einzelnen mit, das auch in Resignation oder sogar Abspaltung mündet.
Die Vielschichtigkeit des Lebens als Mitglied einer alteingesessenen Inselfamilie, die sich Meer und Insel verpflichtet sieht, wirkt sowohl beeindruckend als auch beängstigend.
Der Vater, der sein Kapitänspatent erst an den Nagel hängen kann, als der eigene Vater stirbt und der seinen Kindern immer fremd bleibt.
Die Mutter, die während der langen Abwesenheiten des Kapitäns nicht innehalten durfte, um nicht zu zerbrechen. Wie es wohl anderen mitunter erging.
Die Kinder, die stets zu Saisonbeginn zu Luft werden sollten, um den Sommergästen im traditionellen Familienhaus mit Delfter Fliesen nicht im Weg zu stehen; doch zur Stelle sein mußten, wenn es galt, die Gäste mit einem Gedicht in der Inselsprache zu unterhalten.
Alles driftete von einander fort und hält doch zusammen, während die Insel alle Jahre wieder überrannt wird und sich im Lauf der Jahre verändert. Die Inselureinwohner bleiben unter sich, während ihre Insel ihnen Stück für Stück entfremdet wird. Neue Leute, neues Geld. Man erholt sich gerne mal ein paar Tage im eigenen Inselhaus.
Dörte Hansen ist ehrlich und unverblümt. Ihre Figuren werden derart plastisch, dass ich erst letzte Nacht vom ältesten Sohn geträumt habe. Seine Probleme wälzend.
„Zur See“ von Dörte Hansen hat mich aus vielen Gründen schwer beeindruckt. Und nicht zuletzt wegen der herausragenden handwerklichen Kunstfertigkeit der Autorin.
Geruede, vor den Kopf gestoßen und tief berührt

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Eine wirklich gelungene Komposition in einer wunderbaren Verpackung. Bin so glücklich!
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Whoa, die Schmuckausgabe ist wirklich schmuck. Viel schöner als das Ex was ich lesen durfte, aber der Inhalt scheint der selbe. Mir gefiel es auch außerordentlich gut.
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