Boston, September 1974. Eben erst wurde ein Gesetz erlassen, dass die Rassentrennung an Schulen über das sogenannte „busing“ aufheben soll. Schwarze Schüler sollen mit Bussen an Schulen in weißen Vierteln gefahren werden und umgekehrt. In Southie, im Bostoner Süden, dort wo die legendäre Bostoner Teaparty stattfand, leben vorwiegend Familien mit irischen Wurzeln. Das Viertel sieht sich selbst als nachbarschaftlich verpflichtet und die dort wohnenden Menschen halten nichts davon, dass ihre Kinder plötzlich in eine Schule mit überwiegend schwarzen Schülern gebracht werden. Denn die vorurteile gegenüber der schwarzen Bevölkering sind hartnäckig und Rassismus an der Tagesordnung. Auch Mary Pat Fennessy ist da keine Ausnahme.
Zwar arbeitet sie im Erstjob – um mit ihrer Tochter Jules über die Runden zu kommen, hat sie einen Zweitjob angenommen – auch mit schwarzen Kolleg*innen zusammen. Eine von ihnen schätzt sie sehr, nicht nur weil diese ihr nach dem Drogentod ihres Sohnes Noel einen sehr aufrichtigen Brief schrieb, dennoch ist sie vorurteilsbehaftet, was die schwarze Bevölkerung angeht. Als Jules nach einer gemeinsamen Shoppingtour am Tag zuvor, morgens nicht Zuhause aufzufinden ist, macht sich Mary Pat noch keine großen Sorgen. In der Arbeit angekommen allerdings fehlt auch ihre schwarze Kollegin, die alle dort „Dreamy“ nennen, ein Spitzname aus deren Kindheit, der Name, den sich Mary pat gemerkt hat. Dazu kommt, dass die Leiche eines jungen schwarzen Mannes auf der Columbia Station gefunden wurde und nur deshalb zum Gespräch wird, weil der Fund die Zugverbindung und damit den Arbeitsweg gestört hat. Für die Kolleg*innen ist klar, der junge Mann war eindeutig Drogendealer.
Dottie drückt Mary Pat die Nachmittagsausgabe des Herald American in die Hand, und sie liest sie über der Anrichte. MANN VON U-BAHN ERFASST. Der Artikel führt aus, dass Augustus Williamson. 20, am frühen Morgen tot unter dem Ankunftsbahnsteig der Columbia Station aufgefunden wurde und dass er laut Polizei mehrere Kopfverletzungen erlitten hatte.
Davon, dass der Schwarze ein Dealer war, steht da nichts. Aber die Vermutung liegt nahe. Was hätte er sonst da gewollt? In ihrem Teil der Stadt? Sie geht ja auch nicht rüber.
Schnell wird klar, der Tote ist Dreamys, also Calliope Williamsons Sohn. Und nun beginnt Mary Pat auch Angst um ihre Tochter zu haben. Was, wenn alles irgendwie zusammenhängt? Was, wenn hier etwas schon vor der geplanten Demonstration gegen das „busing“ entgleist ist? Mary Pat setzt sich in Gang und versucht überall herauszufinden, was ihre Tochter am vorhergehenden Abend getan hat. Dabei stößt sie nach und nach auf immer mehr Ungereimheiten, aber Mary Pat ist zäh, eine Kämpferin, sie gibt nicht auf, bis sie die Wahrheit aus all dem herausgeschält hat, was ihr auch die Leute auftischen. Nicht einmal vor Marty Butlers Gang, die die Gegend in vielerlei Hinsicht regiert, macht sie halt. Das ist gefährlich, aber Mary Pat hat nichts mehr, um das sie fürchten kann.
Wie in all seinen früheren Romanen, zeigt Dennis Lehande auch in Sekunden der Gnade wie komplex und ambivalent sowohl Menschen, als auch ihre Beziehungen untereinander sind. Welche Schubladen sich aufmachen, wenn man ein bestimmtes Signal – sei es Hautfarbe, Kleidung oder Wohnort einer Person- empfängt. Der Grad zwischen Angst, Gleichgültigkeit gegenüber (offenem) Hass hin zu Rassismus ist ein schmaler. Und wer sich nicht konkret dagegenstellt, billigt und verbreitet diesen Hass, der bei Menschen, die Angst um ihre eigenen Lebensumstände haben, auf nahrhaften Boden fällt und deshalb so erfolgreich sein kann. Dass sie selbst oft genug zum Spielball der Mächte werden, die diese Angst aus Eigennutz schüren, andere nur ausnutzen und der Tenor der „Nachbarschaftlichkeit“ nur vorgeschoben ist, Manchmal aber gibt es Menschen, die diese Schleifen durchbrechen. Und solch eine Figur hat Lehane mit Mary Pat geschaffen.
Lehanes Romane beschäftigen sich oft mit gesellschaftlichen Themen. Dabei fällt auf, dass er nie wertet, sonden aufzeigt, was tatsächlich so unter der dünnen Schicht der Zivilisation schlummert. Er selbst sagt, er fühlt sich „angezogen vom Bösen in den guten Menschen und vom Guten in den schlechten Menschen [..], weil die wenigstens von uns etwas anderes sind als ein kompliziertes Sammelsurium von Motiven und Begierden.“ Und das zeigt er spannend und meisterhaft immer wieder aufs Neue.
Ich habe in meinem letzten Beitrag auf dem Blog eine Theorie aufgestellt, dass Schriftsteller*innen, die wirklich etwas zu sagen haben, auf ein bestimmtes Buch hinschreiben – bei Lehane ist es eben dieses. Die Situation vor der City Hall, die er im Buch als äußerst gewalttägit beschreibt, hat er selbst als Junge erlebt. Er war mit seinem Vater im Auto unterwegs, als dieser falsch abbog und sie in eine aufgebrachte Gruppe von Demonstranten gerieten. Dieser Eindruck war so stark, dass er seitdem er schreibt, immer genau darüber und über den Rassismus Amerikas schreiben wollte. Nun hat er es getan und das wieder einmal bravourös.Lehandes Romane sind spannend, aber viel mehr als Thriller oder Kriminalromane.
Obwohl Mary Pat – so wie Joe Coughlin, die Hauptfigur des Romans In der Nacht, meine Einstiegsdroge als Lehane-Afficionada – keine sympathische Figur ist, konnte ich einige ihrer Beweggründe sehr gut nachvollziehen und habe ihren Weg gebannt und mitfiebernd verfolgt. Die Tatsache, dass er sowohl private Rachefeldzüge, Gewalt und wenig Vertrauen in die Polizei schildert, ist seinen Erfahrungen geschuldet. Das war die damalige Realität, die er in und auswendig kennt. Dass Serien wie The Wire – für die er ebenfalls eine Folge verfasst hat – das ungefiltert zeigen, ist nicht der Grund dafür, dass das Vertrauen in die Fähigkeiten der Polizei so erschüttert ist, sondern Ausdruck der tatsächlichen Erschütterung.
Lehane trägt sich leider mit dem Gedanken, fortan nur noch Drehbücher zu schreiben, was mir persönlich immens weh täte. Denn seine Romane sind jedes Mal ein Highlight für mich. Absolute Leseempfehlung auch für diesen. Wer sich für andere Romane von Lehane interessiert findet Besprechungen dazu auch hier auf dem Blog.
Sekunden der Gnade von Dennis Lehane, übersetzt von Malte Krutzsch, ist am 23. September 2023 im Diogenes Verlag erschienen. Für mehr Infos zum Buch per Doppelklick auf das im Beitrag abgebildete Cover oder auf der Verlagsseite.

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ick weeß
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Unbedingt, er ist so verdammt gut
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Die Stabi hat ihn, sobald ich wieder SuBabbau hab ist er … ausgeliehen ;)
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Aba sicha :D
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Es ist einfach großartig, nix anderes, Du weißt also Bescheid, ich will nix anderes hören 😎
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Ist am Freitag auch bei mir angekommen, ich freue mich schon sehr.
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