Das neue Altamont oder das Ende der Unschuld des Wirtschaftsliberalismus

Es gab mal eine Zeit in den 60ern, als wieder mal geglaubt wurde, dass Liebe und Friede die Welt bekehren kann. Die Welle von Woodstock rollte über das Land, das Festival war ein Zeichen für eine Wiedergeburt des friedlichen Menschen. Des Unabhängigen, frei denkenden und frei liebenden Menschen. Noch heute ist die Musik und der Spirit, der damals ausgeatmet wurde, einzigartig. Hunderttausende von friedlichen Menschen, keine Reibereien, kein Streit, trotz der widrigen und nassen Bedingungen. Es wurde wieder mal geglaubt. Wieder mal umsonst. Dann kam Altamont.

Der dritte und abschließende Band der Vernon Subutex Reihe ist ein vergleichbares Zurechtrücken der geglaubten neuen Freiheit der geschilderten Charaktere. Wurde im letzten Band noch eine Art Hippie-Enklave errichtet, zerlegt Despentes diesen Traum in ihrem letzten Band. Und zwar regelrecht genüsslich.

Anfangs gestaltet sich das Leben in dieser Enklave noch frei und Ekstasen werden nicht aus Drogen, sondern aus der Gemeinschaft und der Musik, dem Tanz gezogen. Doch bald ziehen dunkle Wolken auf.

Der Grund ist ganz einfach und bewirkt Zerstörerisches: Geld. Eine Erbschaft für die Gemeinschaft wird zum Grund des Scheiterns.

„Allgemeines Chaos. Jeder saß in seiner Ecke und fütterte seine Obsession. Niemand regte sich auf, weil niemand zuhörte, was die anderen erzählten. Das war nicht mehr die normale Stimmung im Camp. Es war die Stimmung einer beliebigen Gruppe von Individuen, die nichts miteinander zu tun haben.“

Vernon verlässt die Gemeinschaft, es zerbricht etwas in ihm. Seine Hoffnung, seine Obsession, alles zerplatzt wie eine Seifenblase.

„Er denkt, dass niemand stabil ist. Nichts. Keine Gruppe. Dass diese Erkenntnis die schlimmste ist. Dass wir nur Sklaven der Situation sind, sie niemals beherrschen.“

Doch schon vorher sind die Zeichen zu sehen. Despentes beherrscht es, die Lebenssituationen der einzelnen, sehr verschiedenen Charaktere, zu beschreiben und als Grund ihrer Probleme, unsere sozialen Medien und den Umgang damit, sowie die scheinbare Freiheit der westlichen, konsumgeprägten Menschen, abzuleiten. Die Zeit des Klassenkampfes ist vorbei, niemand braucht das Proletariat mehr.

„Die Zeit der Abschaffung der Sklaverei oder der Volksfront ist over. Niemand will mehr Schluss machen mit dem Elend. Früher brauchten sie Arbeitskräfte, da blieb ihnen nichts anderes übrig als zu verhandeln. Sie hatten keine Wahl. Aber seit der Automatisierung scheißen sie auf die Proleten. Sie werden euch killen. Ich meine nicht, dass sie in die Demos ballern, das haben sie schon immer gemacht. Nein, sie werden euch ganz konkret ausrotten. Ihr seid zu nichts gut. Deswegen seid ihr zurückgeblieben. Ihr argumentiert immer noch wie unter Papa Marx – als das Proletariat nötig war, damit Leute wie ich den Mehrwert akkumulierten.“

Was bleibt, ist unsere einzige Freiheit, der Konsum. Jeder ist dazu aufgefordert, zu konsumieren, ja der Fortschritt zwingt uns regelrecht, immer Neues anzuschaffen. „Und das Schlimmste an der Geschichte ist, dass jedem Individuum eingebläut wird, es gebe keinen anderen Weg.“

So seziert Despentes die Menschen und die Gesellschaft wieder, wie in den zwei vorherigen Büchern, ohne aber das Schicksal oder das Elend des Einzelnen ins Lächerliche zu ziehen. Unsere Unschuld ist uns abhanden gekommen. Der Wohlstand der ersten Welt, aufgebaut auf dem Elend der dritten Welt, ist ein Zustand den wir lange als Frieden empfunden haben. Doch durch die Attentate in den verschiedenen Ländern und Städten wird der Krieg auch in unsere Wohnzimmer gebracht. Gibt es Hoffnung? Ganz am Ende zieht sie ein Resümee, welches fast wie ein Science Fiction anmutet, vergleichbar mit dem Ende des Filmes „Zardoz“. Ein Zoom in eine mögliche Zukunft.

Despentes hat mit ihrer Subutex Trilogie ein Meisterwerk der Gesellschaftskritik geschaffen, was mir viel Stoff zum Nachdenken gegeben hat und mich wegen ihrer gestochenen Sprache und Klarheit begeistert hat. Um es mit Konstantin Wecker zu sagen:

Das Wort muss eine Faust sein,
kein Zeigefinger:
Zuschlagen.
Treffen.

 

Despentes trifft.

Das Leben des Vernon Subutex 3 ist 2018 im Verlag Kiepenheuer und Witsch erschienen. Weitere Informationen über einen Klick auf das im Beitrag abgebildete Cover oder auf der Verlagsseite.

 

 

2 Gedanken zu “Das neue Altamont oder das Ende der Unschuld des Wirtschaftsliberalismus

  1. Pingback: Die üblichen Verdächtigen präsentieren ihre Highfives des Jahres 2018 | Feiner reiner Buchstoff

  2. Kürzlich einen Kommentar des Nobelpreisträgers und ehemaligen Weltbankers Josef Stiglitz gelesen. Er ist der Ansicht, das Finanzsystem, der derzeit praktizierte Kapitalismus ist gescheitert, denn er nützt nur einigen wenigen. Despentes entwickelt weiter, wie es gehalten wird und zu welchem Preis.

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