Die Paradieswerkstatt

Paradies„Denn wenn meine Theorie von der Murmel und der schiefen Ebene stimmt – und die stimmt -, dann kippt die schiefe Ebene, sobald ich all die Lösungen auf der oberen Liste umgesetzt habe. Dann rollt die Murmel auf der anderen Seite herunter, und das bedeutet, dass sich die Welt ganz von selbst in ein PARADIES AUF ERDEN verwandelt.“

David ist 9 und in diesem Alter hat man noch viele Träume. Was er nicht versteht, ist, dass es sich die Menschen unnötig schwer machen. Seine Mutter vergräbt sich in ihre grauen Rechteck-Bilder, sein Vater in die Arbeit in der Klinik und auch sonst herrscht kein Frieden in dem kleinen Dorf zwischen Rostock und Stralsund. Dabei wäre es doch so einfach, man müsste nur das Geld ein wenig umverteilen. Oder die Kühe von nebenan freilassen, die noch nie auf der Weide waren, das wäre ein erster Schritt die Murmel über diese ominöse Schwelle zu bewegen. Er möchte, dass es „das Paradies“ auf Erden gibt. Für Jeden. Das sollte doch machbar sein. Da ist die arme alte Nachbarin, die nicht ins Heim möchte, aber von ihrem Sohn dahin gedrängt wird, die humpelnde Spaziergängerin die sich nach Liebe sehnt und seine Freundin Lotta, deren Mutter viel zu viele Kinder und zu wenig Geld hat um sich um jedes einzelne zu kümmern.

Doch jetzt liegt David nach einem Autobahnunfall auf der A20 Nähe Rostock Süd im Koma auf der Intensivstation und das Einzige was seine Mutter noch von ihm hat, sind seine Werkstattberichte, Aufzeichnungen der Paradieswerkstatt, geschrieben auf einer Schreibmaschine.

Seine Mutter Lovis ist Malerin und hat in den letzten 9 Jahren eine unsichtbare Mauer um sich aufgebaut.

„Ich dachte daran, wie ich damals, nach Davids Geburt, um jede Minute des Alleinseins gerungen hatte, jede Minute, die ich zwischen Kindergeschrei und Tischdecken, zwischen Wäschewaschen und Staubsaugen für mich und die Malerei hatte. Jede Minute, in der die Welt mich in Frieden ließ. Am Ende war ich wohl zu gut darin geworden, diese Minuten zu sammeln. Jetzt hatte ich viele Minuten und keine Welt mehr.“

Nach und nach wird ihre zuvor aufgebaute Idylle auf dem Land mit dem schönen Haus und den 15 schwarzen Schafen immer brüchiger. Nachdem David im Koma liegt macht sie sich auf zu erkunden, was ihr Sohn eigentlich war, was ihn umtrieb, wovon er träumte. Und wer ist ihr Mann, der vielbeschäftigte Oberarzt, und was hat David mitten in der Nacht auf der Autobahn verloren? Sie bemerkt, dass das Leben der Anderen unter der glatten Oberfläche nicht besser ist.

„Ich fuhr über die ultramarinblau lackierte Oberfläche einer Gartenkugel neben dem Tor und war auf einmal nicht länger eifersüchtig auf die Perfektion dieser so familiären Familienmitglieder. Auf einmal taten sie mir leid. Sie waren gar nicht besser als ich, nur glatter. Und irgendwo unter der glatten lackierten Oberfläche genauso verzweifelt.“

Es ist eine eigenartige Atmosphäre in die uns Antonia Michaelis hineinwirft. Aus der Sicht der Mutter erleben wir Davids Gefühle und Gedanken in seinen naiven und doch erschütternd wahren, klaren Aufzeichnungen mit. David verändert bei jedem Kapitel seine Geheimschrift und Lovis muss sich zum ersten Mal in ihrem Leben in die Gedankenwelt ihres Kindes einstimmen, damit sie das nächste Kapitel lesen kann. Nach und nach findet sie nicht nur in Gedanken ihr Kind wieder, sondern auch zu sich selbst.

„‚Vielleicht sind wir die Generation der Trennung. Wir trennen uns von allem. Von der Kirche, von unseren Eltern, voneinander, von unseren Kindern …‘ ‚Aber dann bleibt nichts mehr übrig, woran wir uns festhalten können‘, sagte ich leise. ‚Nein‘.“

Gerade sie ist es eigentlich, die Hilfe braucht, ihr 9-jähriger Sohn wirkt in seiner Paradieswerkstatt unglaublich reif und erwachsen, auch wenn seine Lösungsversuche der ungerechten Welt kindlich bleiben.

Ohne in Kitsch abzufallen schafft es Michaelis, die naiven Gedanken des Kindes in die Realität zu übertragen. Klar kann man das Geld nicht umverteilen, aber ein wenig Hilfe und Empathie im täglichen Leben zu anderen Menschen würde schon viel ausmachen. Sorgsam baut sie eine untergründige Spannung auf, im Hintergrund lauert immer etwas Grauenhaftes, die Gedankenwelt von Lovis wird dem Leser sehr plastisch dargestellt, ihre Angst vor Verlust und dem Loslassen, dem Vertrauen in sich und Nähe, Gefühle.

Ein wunderschöner, poetischer und betroffen machender Roman, der nicht an der Gegenwart jammernd herumkrittelt, nein, der einem viel Kraft und Hoffnung für diese Welt gibt.

 

Buchdetails:

  • Aktuelle Ausgabe : 3. August 2015
  • Verlag : Knaur
  • ISBN: 978-3-426-51270-8
  • Taschenbuch: 480 Seiten

2 Gedanken zu “Die Paradieswerkstatt

  1. „Der Märchenerzähler“, ein Buch, von ihr, das ich mir nie gekauft hätte, aber geschenkt bekam hat mich damals wirklich überzeugt. Ich denke du hast keinen Fehlkauf getätigt 😉

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