Eine Frage der Verformungsbereitschaft

Beim Bachmann Preis 2024 las Christine Koschmieder einen Auszug aus ihrem nun im Kanonverlag erschienen Roman Frühjahrskollektion.

Ich empfand den Text als außerordentlich gut geschrieben. Er deutete inhaltlich – so schien es mir damals und ich gebe zu, ich habe mir ihre Lesung aus Zeitmangel nur kurz angehört – jedoch eine ganz andere Thematik an, als der nun vielschichtig, klug und stilistisch hervorragend ausgearbeitete Roman.

Ja, es geht um Mode und ja, es geht um die 1960er Jahre – aber eben nicht nur. Das war schon recht bald zu Beginn der Lektüre klar. Doch wie fundiert recherchiert und wie stark Koschmieder die dunklen Winkel der Textilwirtschaft, während der Naziherrschaft und in den späteren Nachkriegsjahren, auszuleuchten vermag und das durchaus spannend und unterhaltsam, wenn man das bei diesen Themen so sagen darf, zeigte sich erst im weiteren Verlauf der Geschichte. Entstanden ist ein herausragender Roman, der über das Frühjahrsprogramm hinaus hoffentlich viele Leser*innen finden wird. Mein zweites Jahreshighlight 2025 – weshalb? Wenn ihr das wissen wollt, müsst ihr weiterlesen.

Lilo Kowatz hat das, was man gemeinhin Geschäftssinn nennt. Schon immer an Mode interessiert, aber nie mit einer fundierten Ausbildung dazu ausgestattet, wird sie demnächst ihren zweiten Treffer landen. Das zumindest ist ihr Plan. Die Materialien des Jahres 1964 lassen es endlich zu, die Kleidung den Körpern anzupassen und nicht umgekehrt. Ihr erstes großes Erfolgsmodell, das Kowatz Knielang war zunächst noch in Einzelanfertigung genäht worden. Abgelegte Trauerkleidung von Kriegerwitwen wurde zum Kleinen Schwarzen. Und als Kowatz Knielang einschlug wie eine Bombe, stellte sie auf Serienfertigung um. Frauen, die aus dem Osten als Heimatvertriebene in den Westen der jungen Bundesrepublik kamen, brachten das nötige Wissen und Können mit und machten die Serienfertigung für Lilo mühelos möglich.

1964 ist es der Stoff, der sie zu ihrem zweiten Meisterstück inspiriert hat. Nylfrance heißt das Material, das sie für ihre Bademodenlinie für die reifere Frau in demselben Betrieb von den versierten, ungarischen Näherinnen, die schon Kowatz Knielang anfertigten, konfektionieren lassen will. Den Grundstein für ihren eigenen Laden legte der Flüchtlingskredit, den ihr Mann Harry Kowatz nach dem Krieg erhalten hatte. Bis es dazu kam, hat sie sich mit Pferdedeckencouture und umgearbeiteten Fahnen über Wasser gehalten. An Ideen hatte es ihr noch nie gemangelt.

Harry, der schöne Herr Kowatz, ist als Reisebegleiter unterwegs. Nicht für Vergnügungsreisen, sondern für Reisen zu den letzten Ruhestätten gefallener deutscher Soldaten. Allerdings hat er nicht nur durch den Flüchtlingskredit, mit dem er Lilo für Ihre Firma Starthilfe leistete, sondern auch durch gewisse Beziehungen und Kenntnisse der Textilwirtschaft Ihren Laden mit befördert. Bei dieser Herkunft – Mutter und Vater, die beide schon lange in der Welt der Mode bzw. der Kleidungsindustrie zuhause sind – verwundert es wenig, dass Tochter Reni als Mannequin Fuß fassen will. Auch hier helfen gewisse Verbindungen – Reni ist für den Beruf eigentlich ein klein wenig zu klein, ihr Kapitel sind ihre Augen.

Geschickt täuscht Koschmieder zu Beginn ihres großartigen Romans darüber hinweg, worauf sie letztendlich hinaus will. Zumindest mich hat sie von Beginn an durch die Zeichnung ihrer Figuren, deren Wesen nicht immer eindeutig zu erkennen war, vollkommen überzeugt. Die Übertragung des Begriffs Verformungsbereitschaft, die gewissen elastischen Materialien, die in den 1960er Jahren Einzug in die Textilherstellung hielten und bis heute bei vielen Menschen beliebt sind, auf das Wesen von Menschen zu übertragen, ist ein genialer literarischer Kunstgriff, mit dem Koschmieder nach und nach zeigt, wie schwierig es manchmal ist, die Frage von schuldig und nicht schuldig zu klären.

Haben wir nicht alle schon die Augen davor geschlossen, was in nächster Nähe vor sich geht? Reden wir uns nicht manchmal alle gewisse gesellschaftliche Umstände schön? Ich denke jede*r von uns kennt solche Momente. Wie häufig sie in unserem Leben vorkommen, wie oft wir ihnen trotz besseren Wissens nachgeben, bestimmt den Grad unserer eigenen Verformungsbereitschaft, die natürlich noch zusätzlich davon abhängt, in welchen Lebensumständen wir gerade stecken.

Um zu Überleben, tut man wohl so einiges, was wir uns heute glücklicherweise nicht mehr vorstellen können. Dabei ist die Grenze vom Opfer zum (Mit-)Täter manchmal ganz rasch überschritten. Während die Einen nach dem Zweiten Weltkrieg versuchten, ihre Taten zu vertuschen, versuchten die Anderen zumindest ein klein wenig Entschädigung zu erhalten. Auch Harry und Lilo wurden in solche Umstände hinein geworfen.

Die Geschichte, die Koschmieder hier webt, ist doppelter Stoff – strapazierfähig und dennoch schillernd wie changierende Seide. Man muss sich weder in der Modewelt auskennen, noch ein Faible dafür haben. Es genügt, sich mit den langanhaltenden Verstrickungen, derer die vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Vermögen durch eine starke Verformungsbereitschaft mehren und zusammenhalten konnten, auseinander zu setzen.

Wie Reni hinter deren Familiengeheimnisse kommt und was sich daraus ergibt, hat Koschmieder geschickt und handwerklich einwandfrei erzählt. Dieser Roman ist immer Haute Couture und niemals Ware von der Stange.

Das Motto, ein Zitat des Modedesigners Rudi Gernreich, das sie ihrem Roman voranstellt hat sie in umwerfender und absolut überzeugender Manier umgesetzt:

I realized you could say things with clothes“

Chapeau Christine Koschmieder zu diesem außergewöhnlich facettenreichen und tief beeindruckenden Roman, der dem Gedenken vieler Menschen, vor allem aber dem von Rudi Gernreich, Ida Rosenthal, Lena Himmelstein Bryant und Fritz Bauer gewidmet ist. Mit Dank an den Kanon Verlag für das bereit gestellte E-Book.

Frühjahrskollektion von Christine Koschmieder ist im Februar 2025 im Kanon Verlag erschienen. Für mehr Information zum Buch über Doppelklick auf das im Beitrag abgebildete Cover oder der Verlagsseite.

2 Gedanken zu “Eine Frage der Verformungsbereitschaft

  1. Danke, lieber Bernd. Der Roman ist wirklich großartig. Ich habe extrem viel gelernt dabei. Und stilistisch ist er umwerfend. Danke für den Tipp. LG, Bri

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