„Heut bin ich über Rungholt gefahren, die Stadt ging unter vor 600 Jahren …* “

Es ranken sich zahlreiche Sagen und Mythen um die versunkene Stadt Rungholt, die im Winter 1362 von der Nordsee verschlungen wurde.

Ann – Kathrin Wasle hat mit ihrem Roman „Rungholt“ nun eine weitere Variante um die damaligen Ereignisse hinzugefügt, die mir ausgesprochen gut gefällt und somit eine wunderbare Bereicherung meiner Meeres- und Küstenbibliothek bedeutet.

Im Nachwort der Autorin erfährt die Leserschaft, dass sie diesen Buchstoff, der ihr sehr am Herzen liegt, bereits einmal in einem Verlag herausbringen durfte.

Leider haben sowohl ihre Literaturagentur als auch der Verlag damals allerlei Änderungen an ihrer Geschichte vorgenommen, so dass Ann – Kathrin Wasle am Ende vom Ergebnis nurmehr enttäuscht gewesen war und beschloss, ihre Geschichte im Eigenverlag nochmals herauszugeben.

Ich bin mit der damaligen Ausgabe nicht vertraut; respektiere, bewundere und unterstütze jedoch Frau Wasles Entscheidung, ihre ureigenste Geschichtsvariante von den Geschehnissen rund um Rungholt nochmals einer geneigten Leserschaft zugänglich zu machen.

Es hat sich wahrlich gelohnt.

Die hoffentlich zahlreichen Leser* begleiten die junge Janna im damals noch eigenständigen Dorf Ording an der Nordseeküste im Jahre 1907.

Janna muß in ihren jungen Jahren bereits einen persönlichen Schicksalsschlag verwinden, kann sich aber mit dem vermeintlich Offensichtlichen nicht abfinden.

Einen Trost findet sie in der alten Sage um die versunkene Stadt Rungholt, die nicht allzu weit von Ording entfernt existiert haben soll.

In den Raunächten findet sich Janna spät abends alleine am Strand wieder. Sie ist gekommen, um die Seelen der Ertrunkenen jener Stadt zu erlösen. Denn in jenen Nächten soll sich Rungholt der Sage nach kurzzeitig wieder aus den Fluten erheben und so ein kurzes Zeitfenster für den oder die Auserwählte schaffen, damit die geplagten Seelen endlich Ruhe finden können.

Janna ist bereit, ihr Schicksal zu erfüllen. Doch alles kommt ganz anders als gedacht und die winterliche Ruhe im Dorf wird im Laufe der nächsten Tage vollkommen auf den Kopf gestellt, als ein gewaltiger Eisberg aus Island in jener Nacht im Watt strandet.

In der Folge wird das beschauliche Dorf von Neugierigen förmlich überrannt.

Doch allein das fahrende Volk, umherziehende Händler, sind dem Bürgermeister von Ording ein Dorn im Auge, den es möglichst schnell zu entfernen gilt.

Janna hingegen trifft in diesem bunten und quirligen Treiben auf faszinierende Personen, die sich ihr nicht erschließen.

Eine geheimnisvolle und überaus verschlossene Händlerin beeindruckt Janna besonders mit ihrer unnachgiebigen Unabhängigkeit.

Im Besitz dieser Frau befindet sich ein sehr altes Buch, dass Janna zwar zu lesen versteht, doch die Bedeutung der Worte bleiben ihr fremd. Dieses Werk ist in einer untergegangenen Sprache verfasst.

Seltsamerweise kann die Händlerin Sigal jene vergessene Sprache übersetzen. Lesen kann sie sie allerdings nicht.

Dies stellt den Beginn einer schroff geführten Zweckgemeinschaft da, als Janna Sigal den Inhalt des Buches vorliest, während Sigal synchron übersetzt.

Es handelt sich um das Tagebuch einer Lenore aus dem Patrizierhaus Greifbeck, einer auf Rungholt ansässig gewesenen Kaufmannsfamilie mit hohem Ansehen.

Die letzten Seiten des Buches sind unbeschrieben.

Tiefer und tiefer taucht Janna in das Leben jener längst dahingegangenen Lenore ein, die einen Traum von Unabhängigkeit Wirklichkeit werden lassen wollte.

Ich stimme mit den Aussagen auf dem Buchrücken allerdings nicht überein.

Auch wenn Janna starken Anteil am grauenvollen Schicksal Lenores nimmt, finde ich keineswegs, dass sie sich in dieser Geschichte verliert.

Ganz im Gegenteil. Sie geht Ungereimtheiten nach, die sich um das Verschwinden ihres Zwillingsbruders drehen und stößt schließlich auf haarsträubende Zusammenhänge.

Ann – Kathrin Wasle verwebt geschickt zwei Zeitebenen miteinander und schafft eine einnehmende und spannende Atmosphäre in ihrem Werk, die mich nicht mehr losgelassen hat.

Auch bedient sie sich auf äußerst charmante Weise des Mittels des magischen Realismus, der eine absolute Bereicherung für die Geschichte darstellt und sie eigentlich erst so richtig rund macht. Ich empfinde dies nicht als Zeichen beginnenden Wahnsinns bei Janna.

Die in der Johannisnacht Geborenen sind schlicht besondere Menschen, die empfänglicher zu sein scheinen für die empirisch noch nicht erschlossenen Ebenen des Daseins.

Gerade an den Gestaden eines wilden Meeres.

Ann – Kathrin Wasles gelungene Geschichte hat mich weit fortgeführt, tief bewegt, unerhört aufgewühlt, nicht mehr losgelassen und somit bestens unterhalten.

 

Geruede, zurückschwimmend

 

Rungholt“ von Ann – Kathrin Wasle ist im Tintenschwan Verlag erschienen und trägt stolz folgende ISBN: 978 – 3 – 949198 – 14 – 4

 

* Beginn der Ballade „Trutz, blanke Hans“ von Detlev von Liliencron aus den Jahren 1882/83

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