Erst durch die Meldung vom Nachlassgericht über das Erbe des Hauses ihrer Großmutter erfährt Toni Bachmann vom Tod ihrer eigenen Mutter. Längst hat die Beerdigung stattgefunden und Tonis Entscheidung, zwischen sich und Ihre Heimat viel Raum zu bringen, war eine freiwillige. Doch nun geht es nicht mehr nur um das Verhältnis zwischen ihrer Mutter und ihr, das sie faktisch als inexistent ansieht. Und so fährt sie kurzentschlossen, ohne Ihren Mann davon zu unterrichten, aber mit ihrem gemeinsamen irischen Wolfshund Loup, nach Lindbach in Hessen.
Dort angekommen wird sie schon von einer Frau erwartet, die sich nicht nur äußerlich als aus dem Rahmen fallend erweisen wird. Die Dame stellt sich als Elsa von Freytag-Loringhoven, eine der leider mittlerweile fast vergessenen Künstlerinnen, die vor allem kurz vor und nach dem Ersten Weltkrieg Furore machten. Eigentlich ist Elsa bereits 1927 in ihrer Pariser Wohnung an einer Gasvergiftung verstorben, doch sie steht nun leibhaftig vor Toni und scheint deren Mutter sehr lange und viel besser gekannt zu haben, als Toni. Überhaupt scheinen alle möglichen Bewohner von des Dorfes Emma 2, also Tonis Mutter ganz anders gekannt zu haben, als Toni. Dass diese sich so komplett abgewandt hatte, hängt mit dem Tod von Emma 1, der Großmutter Tonis, bei der sie sozusagen aufgewachsen war, zusammen.
Anfänglich las sich Nackt war ich am schönsten atmosphärisch ähnlich wie Elisabeth R. Hagers Der tanzende Berg. Das Auftauchen einer vor Jahrzehnten, ja bald einem Jahrhundert verstorbenen Person, die nicht nur von der Hauptprotagonistin, sondern auch von allen anderen Personen als real anerkannt wird, könnte man mit magischem Realismus begründen. Aufgelöst wird das Rätsel darum, wie das möglich sein könnte, nicht. Neben der eigentlich toten Elsa, die oder vielleicht ist es auch nur der Geist oder die Idee ihrer Persönlichkeit, durch die Jahrzehnte wandert, gibt es noch Stimmen, die im alten Waldhaus, das Toni erbt, aus einem Küchenschrank kommen. Aber diese kann nur Toni hören und hier ist ganz klar, dass sie memoriert, was ihre Großmutter in gewissen Situationen zu sagen pflegte.
Elsas Erscheinen hat mehrere Funktionen. Einerseits erzählt sie Toni ihre Geschichte, die Geschichte einer Künstlerin, die Vorreiterin einer später berühmten Bewegung war, deren männliche Vertreter heute sehr viel mehr im Gedächtnis sind, als die weiblichen und das, obwohl sie es waren, die die Herren inspirierten. Das beste Beispiel dafür ist Elsa selbst, deren Kunstwerke tatsächlich dem später sehr berühmten Dadaisten Marcel Duchamp zugeschrieben wurden und der dies nie richtig stellte. Heute ist man sich einig, Elsa von Freytag-Loringhoven hat eines der zentralen Kunstobjekte, das auf den Kopf gestellte Urinal mit dem Titel Fountain geschaffen.
Die zweite Funktion Elsas ist die der Mittlerin zwischen Toni und ihrer verstorbenen Mutter mittels deren Spätwerk und die dritte ist natürlich das Gedenken an Elsa ganz persönlich. Tatsächlich funktioniert die Geschichte recht gut, wenn man sich keine Gedanken über die Sinnhaftigkeit einer Figur macht, die eigentlich nicht existent ist, aber alle möglichen Menschen zusammenführt. Und zwar leibhaftig, nicht über ihr Werk. Meine Lektüre war ein wenig davon getrieben, dass ich immer auf eine gewisse Art „Auflösung“ hoffte, die ich aber nicht bekam. Dennoch habe ich das Buch gerne gelesen, wenn es mich auch nicht komplett überzeugen konnte. Tatsächlich habe ich mich darüber hinaus auch mit der wahren Elsa beschäftigt und das alleine ist schon ein Gewinn.
Vielleicht lebt die Geschichte aber ja auch davon, selbst ein wenig DADA zu sein. Gerade in unseren Zeiten wäre das wohl nicht ganz von der Hand zu weisen.
Nackt war ich am schönsten von Veronika Peters ist am 13.03.2024 als Hardcover im Kindler Verlag erschienen. Für mehr Infos zum Buch per Doppelklick auf das im Beitrag abgebildete Cover oder auf der Verlagsseite.
