Benjamin Benjamin (man sollte nicht sagen, dass seine Eltern ihm bei seiner Namensgebung nicht ein wenig Humor mitgegeben haben) ist 40 Jahre alt und in ein tiefes Loch gefallen. Er muss seinem Leben eine neue Richtung geben. Der Grund seiner Verzweiflung ist ein schwerer Unfall, Ben erinnert sich kapitelweise zurück an die schönen Tage, als seine Familie ihm beim Softball zusah:
„Vielleicht wirkt das traurig, irgendwie erbärmlich – ein arbeitsloser Hausmann und Vater, der von seiner Frau Taschengeld bekommt, steht da breitbeinig mit zwei kaputten Knien auf dem zweiten Base wie auf dem Mount Everest. Aber das ist es nicht. Traurig ist, dass ich es nicht zurückholen kann. Erbärmlich ist, dass ich es nach all der Zeit immer noch versuche.“
Seine Frau will die Scheidungspapiere unterschrieben haben, er hockt in einer Appartmentanlage mit neurotischen Mitbewohnern, sein Leben ist ein Scherbenhaufen.
„Ich reagiere nicht mehr auf Gezwitscher, auf den Ruf von lächelnden Gesichtern und offenen Kaminen und gemütlichen Wohnzimmern. Ich werde kein Nest mehr zwischen Rosenblüten bauen. Zu viele Dornen.“
Ben besucht einen Krankenpflegekurs und bekommt auch tatsächlich, für einen kleinen Lohn, einen Job. Bei dem 19-jährigen Trev, der wegen MS, gekrümmt und gelähmt im Rollstuhl sitzt. Beide entwickeln untereinander Vertrauen und endlich hat Ben wieder eine Aufgabe, er will Trev da rausholen:
„Die Wahrheit ist, dass ich seit einem Monat oder so mindestens die Hälfte der Zeit genervt bin, dass Trev nichts mehr riskiert, sondern sich willentlich hinter seinen Gewohnheiten verschanzt und das Leben nur teelöffelweise zu sich nimmt. Aber wofür? Um noch ein paar Jahre drei Stunden am Tag den Wetterbericht zu gucken und noch ein paar Hundert Leinsamenwaffeln mehr zu essen?“
Nach einigen Wirrungen, in denen Ben seinen Job fast verliert, machen sie sich auf nach Utah, um Bob, den tolpatschigen Vater von Trev, zu besuchen.
Die Reise wird für Ben auch eine Reise in sein Inneres und sein Widerstand gegen die Scheidung, seine Schuldgefühle wegen des furchbaren Unfalles, weichen auf. Auf dieser Reise passiert natürlich einiges, manche Tramper steigen in den Van, eine Ausreisserin, eine Schwangere mit ihrem Freund, verfolgt wird der bunte Haufen zusätzlich noch von einem Geheimnisvollen. Dies ficht Ben kaum noch an, vor allem ist er mit einer Art Galgenhumor gesegnet, der jede Abweichung vom Reiseplan fast klaglos hinnimmt, auch Trev steht ihm da in nichts nach:
“ ‚Sicher, dass das okay ist? Könnte einen Moment dauern.‘ ‚Lass einfach das Fenster einen Spalt auf‘, sagt Trev, ‚Wenn ich mich vernachlässigt fühle, belle ich.‘ „
Die innerliche Spannung steigt trotzdem kontinuierlich, das kommt in kleinen Episoden bei Ben zum Ausbruch. Eine blinkende Motorlampe bringt ihn dann auch mal innerlich zur Verzweiflung:
„Er hat natürlich recht. Ich sollte es besser wissen und nichts riskieren. – Ich sollte Warnsignale nicht mehr ignorieren. Wie viele Warnsignale habe ich ignoriert, bevor mein Leben explodiert ist?“
Am Ende stellt es sich mehr oder wenige als Attrappe, als Fehlalarm dar.
Überhaupt gelingt Evison diese Mischung aus Tragik und Komödie, Witz und vollkommener Verzweiflung. Das Buch springt in Kapiteln von Vergangenheit und Gegenwart hin und her, ohne dass ein Bruch in der Geschichte festzustellen ist. Situationen aus der Reise, der Gegenwart, werden bei Ben Auslöser für Vergangenheitsszenarien. Evison spielt dieses Pingpong Spiel im Innern von Ben, die Spannung wird immer weiter hochgekocht, bis der Leser diesen Schmerz fast leibhaftig fühlt, den Ben erlitten hat. Diese Einsamkeit, diesen Verlust, den er spürt, bei einem Blick auf ein Neugeborenes:
„Jedes Mal wenn es weint, weil es sich nicht anders ausdrücken kann, jedes Mal, wenn es an ihrer Brust gurrt, jedes Mal, wenn es ihr mit seinen kurzsichtigen Blick hinterhersieht, wenn sie den Raum verlässt, wird ihr Körper sich nach ihm sehnen. Und mit dem Gedanken an diese Sehnsucht kommt all das Wundersame und das Demütigmachende und diese bestürzende Ehrfurcht des Elternseins wieder in mir hoch.“
Die Schlüsselszene des Verlustes erlebt Ben, trotz seines Widerstandes, noch einmal hautnah und dies ist eine der hochemotionalsten Szenen in einem Buch, was ich zuletzt gelesen habe. Nach der Verarbeitung, nach dem Blick in seine private Hölle, ist er nicht geheilt, aber bereit einen Neuanfang zu starten.
Doch Evison packt noch viel mehr in sein Buch! Viele Gedanken kommen Ben auf der Reise, z.B. dass viele Jugendliche ohne Vater aufwachsen oder keine Beziehung zu ihnen haben. Gerade er hatte die Chance! Auch ist die Reise durch Amerika sehr realistisch geschildert, man steigt in klapprigen Motels ab, wohnt mit kaputten Klimaanlagen, kauft meist das gleiche Fastfood. Das Ambiente in dem Buch ist sehr stimmig und naturgetreu. Jeder Charakter ist scharf gezeichnet und manche haben eine so liebenswürdige Zeichnung, dass sie einem wirklich ans Herz wachsen. Bob, der Vater von Trev, ist so rührend unbeholfen in seiner Annäherung, dass ihm slapstickmäßig fast alles misslingt. Es ist der Versuch, der Wille, es wieder gut zu machen, die sie alle vereint.
Eine sehr trauriges, dramatisches, ergreifendes, aber auf dem Boden bleibendes – hauptsächlich aber doch komisches Buch.
Wer in der Trauer die Komik erkennt, hat schon gewonnen!
Buchdetails
- Aktuelle Ausgabe : 09. Februar 2015
- Verlag : Kiepenheuer & Witsch
- ISBN: 978-3-462-04659-5
- Gebunden: 384 Seiten

Ich kann sagen schon ein Highlight für dieses Jahr, so tragisch schön hatte ich es noch nicht gelesen.
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Das klingt wirklich wunderschön – ich habe vor kurzem sehr gerne „Alles über Lulu“ gelesen, den Vorgänger und dieses Buch steht schon auf der Wunschliste.
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Das klingt wunderschön, besonders das Zitat mit dem Neugeborenen. Ein Buch das in den Schwarzwald gehört ;)
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