George R. Stewart setzte mit seinem 1941 erschienen Roman „Sturm“ neue Akzente im Bereich des Erzählens.
Tatsächlich wähnt man sich während des Lesens dieses Buches in einem Roland Emmerich Film, denn die Geschichte erscheint als Blaupause für die allermeisten Katastrophenfilme der Neuzeit.
Stewart beleuchtet das Schicksal verschiedener Menschen unter dem Eindruck eines heraufziehenden Sturms in Kalifornien.
Entsprechend regelmäßig wechselt er in seiner Betrachtung zwischen den einzelnen Figuren.
Diese Menschen verbindet in der Regel nichts miteinander. Doch alle müssen ihren Weg durch den Sturm finden, der das Zentrum der Geschehens bildet.
In der Figur des Juniormeteorologen begleitet die Leserschaft das Entstehen, Wachsen, Wüten und langsame Vergehen eines Sturms, das dem Werdegang eines Menschen nicht unähnlich erscheint.
Darüber hinaus meint der Juniormeteorologe eine eigene Persönlichkeit im Charakter des Sturms erkennen zu können, die sich von anderen Stürmen unterscheidet.
Einem menschlichen Hang nachgebend tauft er den heranwachsenden Sturm auf den Namen „Maria“.
Maria entpuppt sich schließlich als wütender Wintersturm an der kalifornischen Küste, der die begleitenden Menschen in arge Bedrängnis stürzt.
In Zeiten von „Regenradar auf dem Smartphone“ erscheint es mir hilfreich, in eine Zeit zurückzugehen, als nur eine handvoll Wetterstationen lediglich ein sehr grobes und lückenhaftes Raster von Wetterdaten sammelten und selbst die Besatzungen sämtlicher auf den Ozeanen befindlichen Schiffe dazu angehalten waren, örtliche Wetterdaten zu einem bestimmten Zeitpunkt aufzuzeichnen und per Funk an das zuständige Wetteramt zu senden, damit man an Land überhaupt eine Ahnung davon bekam, was sich wo auf dem Meer zusammenbraute.
Damals wurden meteorologische Karten selbstverständlich jeden Tag aufs Neue per Hand erstellt und ausgehängt. Menschen und Zeitungen riefen an, um zu erfahren, wie es denn ums kommende Wochenende bestellt sei.
Das Alles ist mittlerweile sehr weit entfernt von uns heute, wo Wissenschaft in Frage gestellt wird und Windkarten von einigen Mitmenschen als aktuelle Invasionspläne gedeutet werden.
Auch aus diesem Grund stellt „Sturm“ von George R. Stewart einen wichtigen Roman da. Er bringt uns wieder auf den Boden der Tatsachen und nimmt den „Alles Lüge!“ – Zersetzern den Wind aus den Segeln. Denn alles in diesem Buch hat Hand und Fuß.
So kann man den unglaublichen Entwicklungsschub, den auch die Meteorologie in den letzten 80 Jahren durch den anhaltenden Techniksprung erfuhr, nachspüren und erahnen, welch imposanten Weg die Menschheit dahingehend zurückgelegt hat.
Darüber hinaus läßt der Autor noch den Effekt des „Schmetterlingsschlag“ aus dem Bereich der Chaostheorie in seine Geschichte miteinfließen, auch wenn diese Theorie erst 38 Jahre nach dem Erscheinen dieses Romans intellektuell erschlossen werden sollte.
Stewart vollzieht diesen Kunstgriff, indem er ein Eichhörnchen, einen Wildeber und eine Eule aus der kalifornischen Wildnis in seinem Szenario auftreten läßt, die ihrerseits nur ihren Instinkten folgen und nicht abschätzen können, was aus ihren jeweiligen Handlungen in freier Wildbahn erwächst.
Der Autor erscheint mir als gewissenhafter und aufgeräumter Schreiber, dessen Geschichte das Ergebnis säuberlicher Recherche darstellt, denn er ist sowohl mit den Abläufen in einem Wetteramt, dem Flugwesen, der Eisenbahn, einer Telefongesellschaft, der Bergstraßenwacht, der Polizei und Zeitungen informiert, als auch über das oftmals selbst überschätzende Element, das vielen Menschen innewohnt. Ebenso sicher bewegt er sich im Bereich der Physik. Für einen amerikanischen Historiker und Professor englischer Literatur keine Selbstverständlichkeit.
Seine Beschreibungen atmosphärischer Abläufe und Zusammenhänge bereichern das Buch ebenso, wie seine philosophischen Betrachtungen zum Wesen des Menschen.
Und dies bei aller amerikanischen Abgeklärtheit.
„Sturm“ von George R. Stewart werde ich sicherlich noch einmal lesen. Gut, dass es jetzt in meiner Meeres- und Küstenbibliothek weilt. Direkt neben „Das Wetterexperiment“ von Peter Moore.
Die vorliegende Ausgabe mit einem Vorwort aus dem Jahr 1947 liegt in gebundener Form vor und erschien Anfang dieses Jahres bei Hoffmann und Campe.
Geruede im kalten Sonnenschein
