Mitte des Jahres 1940 – Frankreich geht Waffenstillstandsverhandlungen mit Nazideutschland ein, General de Gaulle ist bereits ins Exil geflohen und versucht seine Landsleute per Radioansprachen, die über die BBC ausgestrahlt werden, zum weiteren Widerstand gegen das stetig weiter vorrückende Nazideutschland einzuschwören. Es kommt zur faktischen Zweiteilung des Landes, die sog. Vichy Regierung, die den „unbesetzten“ Teil Frankreichs verwaltet gleicht Gesetze und Vorgehen mit der Zeit denen der Nazis an …
Die Situation für die zum Teils bereits seit 1933 dort im Asyl lebenden Deutschen verschlechtert sich dadurch extrem. Viele Menschen waren ins vermeintlich sichere Nachbarland geflohen, dort hatten sie sich eingerichtet, waren der Schönheit der Landschaft, dem Leben im kulturellen Zentrum des Landes wegen gekommen. Die mit dem Naziregime kollaborierenden Amtsstellen zwingen die Geflüchteten immer weiter in den Süden. Über verschiedene Kanäle gelangt die Kunde über die größer werdende Not vieler Menschen, die aufgrund von Herkunft, Religion oder politischer Gesinnung von den Nazis verfolgt und gesucht werden auch in die USA. Ein junger Journalist, der sich bereits in den 1930er Jahren für längere Zeit in Deutschland aufhielt, um die Veränderungen durch das Naziregime direkt beobachten zu können, koordiniert für das ERC (Emergency Rescue Committee) ab 1940 in Marseille die Rettung vieler deutscher Intellektueller und Künstler. Sein Name: Varian Fry.
Mit viel Gespür für Spannung und dennoch extrem fundiert erzählt Uwe Wittstock davon, wie viel Arbeit, wie viele Verbündete, wieviel Gefahr und wieviel Glück es bedurfte, Menschen aus den Fängen des Naziregimes zu befreien. Varian Fry ist für Wittstock zwar der Dreh- und Angelpunkt, weil er eigenständig entscheidend niemanden zurücklassen wollte, egal ob das ERC ihn auf die Liste der zu rettenden Personen gesetzt hatte, zollt aber seinen Mitstreiter:innen mindestens genauso viel Anerkennung. Die einzelnen Lebenslinien nachzuverfolgen war sicher mit akribischer Feinarbeit verbunden, dem Text merkt man das gerade in der von Julian Mehne gelesenen Version überhaupt nicht an.
Dicht und mit Informationen über die einzelnen Intellektuellen und Künstler jeglicher Sparte gespickt, bekommt man durch die Schlaglichter, die Wittstock setzt, einen sehr guten Eindruck davon, wie prekär und gefährlich das Leben als verfolgte Person war. Ständig in Angst, obwohl man sich in Frankreich zunächst sicher fühlte, entdeckt, in eine Internierungslager gesteckt und in eines der Konzentrationslager deportiert zu werden – so lebten extrem viele Menschen. Nicht nur diejenigen, die bekannt waren. Es konnte jeden und jede treffe, die nur Millimeter weit in Denken und Tun davon abwichen, was die Nationalsozialisten wollten. Aber es gab auch viele Menschen, die durch uneigennütziges, mutiges Handeln halfen.
Was auch gut vermittelt wird, ist die Tatsache, dass alles sehr schnell ging. Die Vereinigten Staaten von Amerika kommen dabei nicht unbedingt gut weg. Zögerlich war ihr Handeln. Großen Einfluss hatte jedoch die First Lady Eleanor Roosevelt, die ihrem Mann eindringlich klar machte, dass sie mit dieser zögerlichen Haltung nicht einverstanden war. Varian Fry selbst wollte nicht nur die Personen retten, die wohl als besonders rettungswürdig galten, sondern jede Person, der Gefahr an Leib und Leben drohte. Dass er dabei nicht immer sehr diplomatisch vorging und damit vielleicht nicht ganz so viele Menschen retten konnte, wie es vielleicht möglich gewesen wäre, ist zwar ein müßiger Gedanke, aber er ließ ihn sein Leben lang nicht los. Eine Würdigung seines Einsatzes war ihm zu Lebenszeiten nicht wirklich vergönnt.
Absolute Empfehlung meinerseits- gerade eben auch für das Hörbuch.
Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur ist als ungekürztes Hörbuch im Februar 2024 bei Der Audio-Verlag erschienen. Für mehr Information per Doppelklick auf das im Beitrag abgebildete Cover oder auf der Verlagsseite.

Also ich es tatsächlich zur Zeit selbst gelesen bekommen hätte, weiß ich nicht. Ich habe es mir sehr gerne vorlesen lassen. Es inspiriert zu weiterer Lektüre und ist extrem dicht. LG, Brigitte
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Lieber Bernd, wenn ich eines durch dieses Buch gelernt habe, dann dass es jeden und jede betreffen kann, Namen hin oder her und, dass die Veruweiflung wirklich greifbar war.
LG, Br
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Liebe Bri,
vielen Dank für Deine Anhörung und Besprechung. Von diesem Buch hatte ich im Rundfunk gehört, hier und da gelesen.
Was für ein dramatisches Geschehen damals – und heutzutage leider wieder.
Deinen Beitrag finde ich schon deshalb bemerkenswert, weil Du kein „name dropping“ der beteiligten Promis schreibst, sondern vom Einsatz des bisher kaum bekannten Akteurs Varian Fry und seiner gleichen Sorge für die „no names“.
Herzlich, Bernd
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Wollte ich vorher schon unbedingt lesen, nach deinem Beitrag hier noch mal mehr :) Liebe Grüße, Sabine
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