Marie Scheringer ist nach 15 Jahren in Wien, wo sie beim Radio gearbeitet hatte, wieder zurück in Tirol. Gegangen war sie, weil sie sich immer als Fremdkörper in der Dorfgemeinschaft gefühlt hatte. Aufgewachsen bei Onkel und Tante, die Eltern verloren, als sie ein Säugling war, verbrachte sie viel Zeit alleine oder bei ihrem Onkel in seiner Werkstatt, wo er als Tierpräparator die verstorbenen Lieblinge der Dörfler und den Stolz der Jäger für die Ewigkeit konservierte. Die Zeit in der Werkstatt mit dem Onkel war eine lehrreiche, nach getaner Arbeit jedoch ging Marie Onkel Franz lieber aus dem Weg. Als ein Junge namens Youni in ihre Klasse kommt, fühlt sie sich nicht mehr ganz so alleine. Denn Youni kommt aus einem Kriegsgebiet und auch äußerlich sieht man recht schnell, dass er nicht ursprünglich aus dem Dorf stammt. Ihre Freundschaft hält ein Jahr, als Marie sich entschließt, nach Wien zu gehen, verliert sich die Verbindung, aber als Marie ihre Tante Hella für ein paar Tage besucht und Youni mit einer geheimnisvollen dünkelgrünen Metallkiste auf dem Moped an Tante Hellas Haus vorbei knattert und im Wald verschwindet, löst das bei Marie etwas aus und sie nimmt den Faden der Freundschaft wieder auf …
Leider bleibt Marie und Youni wiederum nur ein gemeinsames Jahr. Zu Beginn des Romans ist Youni seit sechs Wochen tot, niemand spricht darüber, was da wirklich passiert ist und Marie ist wieder der Fremdkörper, der sie früher war. Die Werkstatt ihres Onkels hat sie übernommen, doch die Dörfler finden, dass die Arbeit eines Tierpräparators nichts ist für eine Frau. Marie jedoch weiß das sehr viel besser:
Überall auf der Welt machten Frauen Grenzerfahrungen, jeden Tag millionenfach. Es sprach nur nie jemand davon. In der Welt, wie die Männer sie erklärten, der Welt der Regeln und Gesetze, in der Geschäfte gemacht und Steuern gezahlt wurden, gab es schlichtweg keine Worte dafür. Doch hinter dieser Welt lag eine zweite. Eine Welt in der Ftüchte wuchsen, reiften und verdarben. Eine stinkende, schleimige Welt. Eine alchemistische Welt, in der Lachen, Trauer, Schmerz, Zuneigung und Lust sich mit Blut, Sperma, Wasser und einem Funken Goldstaub zum Wunder des Lebens verbanden.
Elisabeth R. Hagers Roman wäre vielleicht nicht unbedingt auf meiner Leseliste gelandet, hätte mich der Verlag nicht darauf aufmerksam gemacht – was mein Glück war. Leider habe ich im Moment wirklich wenig Zeit zum Lesen, obwohl es mir so viel gibt. Da bleibt dann so ein Buch, auf das man sich gefreut hat auch mal ein wenig länger auf dem laut rufenden Stapel liegen, ohne dass ich ihm Beachtung schenken kann. Aber einmal angelesen, konnte ich Hagers tanzenden Berg nicht mehr beiseite legen – und das owbohl ich schon ein wenig skeptisch war.
Tatsächlich bin ich auch deshalb ein wenig lesemüde geworden, weil ich das Gefühl hatte, dass es mittlerweile reicht, ein Thema zu haben, um einen Roman gedruckt zu bekommen. Dass man das auch innerhalb ein sprachlich und konzeptionell gut gebauten Geschichte tun sollte, trat in den letzten Jahren leider ein wenig in den Hintergrund. Andereseits gibt es eine Strömung, die experimentellere Literatur abkanzelt als zu unverständlich abkanzelt. Da geht es dann minutiös darum, ob ein Bild schief wäre, ob eine sprachliche Verknüpfung „korrekt“ sei oder ob das nicht einfach schlampig ist. Beide Extreme bringen die Literatur meiner Meinung nach nicht weiter. Und gerade deshalb finde es so erfrischend, dass mir in den letzten zwei drei Jahren Romane ins Haus gespült wurden, die trotz der wichtigen Themen, die sie verhandeln, hervorragende Geschichten erzählen und dabei unterhalten. Interessanterweise sind es fast ausnahmslos Bücher von Autorinnen. Einige haben tolle Debüts hingelegt, einige hatte ich einfach bisher nicht entdeckt – und eine von ihnen ist also nun Elisabeth R. Hager.
Das zentrale Thema ihres neuesten Romans ist wohl – so sehe ich das zmindest – das „nicht-in-die-Schublade-passen“-Gefühl, das wohl jeder von uns zumindest in der Pubertät kennengelernt hat. Manchmal löst sich das, in dem man sich anpasst, indem sich andere veränderm, man sich vielleicht in einer Gruppe anderer nicht der Norm entpsrechender Menschen wieder findet. Oder man geht weg, in die Anonymität der Großstadt, so wie Marie es getan hat. Youni ist geblieben und wurde wegen seiner Kontakte einerseits irgendwie ein nicht mehr ganz ausgeschlossener Teil der „feinen“ Gesellschaft im Dorf, andereseits aber wohl eher geduldet, als respektiert. Alleine seine Herkunft und sein Aussehen machen ihn per se dazu. Schubladen sind es, in die man gesteckt wird in solch einer „Gemeinschaft“ und aus denen man kaum wieder heraus kommt.
Als Marie den Auftrag erhält, den kürzlich verstorbenen Schoßhund der Tochter des reichen Hoteliers am Ort für die Ewigkeit zu präparieren und das innerhalb eines Tages, weil die junge Dame ihn um Mitternacht als Geburtsgeschenk erhalten soll, taucht eine alte Bekannte sowohl von ihr als auch von Youni auf. Auch Ursula – oder „die Butz“ wie sie weitläufig genannt wird – ist ebenfalls eine Außenseiterin und das obwohl sie im Tal geboren wurde. Im Lauf der Geschichte wird klar, dass die beiden Frauen Youni besser gekannt haben, als manch anderer und nicht nur die blendende glückliche Fassade sehen durften. Nun könnte Marie sich austauschen über ihre Gefühle, aber der Auftrag ist dringend und bringt eine Menge Geld ein. Doch die Butz begleitet sie und hilft ihr überraschenderweise auch noch tatkräftig bei der Arbeit. Was genau passiert war, als Youni starb, interessiert niemanden im Dorf mehr so richtig. Außer eben die Butz und Marie.
King war erst wenige Stunden tot und schon zu neuem Leben erwacht. In aller Eile hatte sie ihn zusammengelickt, damit die erbin des Goldenen Hahns ihren Geburtstag ja nicht ohne ihren Liebling feiern musste. Youni war seit sechs Wochen tot. Kein Hahn krähte mehr nach ihm. Eine Woche nach dem Unglück hatte man die ermittlungen eingestellt. Seitdem herrschte Schweigen. Zweitausendsechshundert Euro. Zweitausendsechshundert Euro und ein Mordsstress. Marie verabscheute die Haltung ihrer reichen Kunden, die glaubten, alles in der Welt wäre in Geld aufwiegbar. Und doch war sie übers Stückchen gesprungen, das Hassel ihr am Morgen hingehalten hatte. Dabei war ihr endlich jemand begegnet, mit dem sie über Youni hätte reden können. Jemand, der ihn fast so gern gehabt hatte wie sie selbst.
Die Geschichte nicht vom Ende her denken – nicht wie etwas geendet, sondern angefangen hat oder eben war ist das Wichtige, das ist eine der Lektionen, die Hagers Roman lehrt. Und das zeigt auch seine Form – der Anfang dieses Romans ist quasi das Ende einer Geschichte, die mit einem lauten Knall den Weg freimacht für etwas Neues. Chapeau und danke sage ich für ein ungewöhnliches und sehr schönes Leseerlebnis, dem ich viele Leser:innen wünsche. Zumal ja auch Österreich heuer Gastland der bald stattfindenden Leipziger Buchmesse ist. Absolute Empfehlung!
Der tanzende Berg von Elisabeth R. Hager ist gebunden 2022 im Klett-Cotta Verlag erschienen. Für mehr Information zum Buch per Doppelklick auf das im Beitrag abgebildete Cover oder auf der Verlagsseite.
@awogfli – ich habe beim Lesen immer an Dich gedacht, weil ich mir vorstellen könnte, dass es Dir gefallen könnte. LG Bri
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Deinen Absatz zum Zustand der Literatur kann ich zu 100% unterschreiben. Danke auch für den Tip mit dieser österrreichischen Autorin – hab noch nie von ihr gehört
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