Die Üblichen Verdächtigen präsentieren ihre Highfives des Jahres 2022

Ein weiteres Jahr im Krisenmodus …

2022 – hat uns überrascht und das nicht unbedingt im positiven Sinn. Corona ist nach wie vor ein Thema, der Umgang damit auch. Was aber viele von uns mehr beschäftigt hat, sind gesellschaftliche Dinge und natürlich der Krieg in der Ukraine. Am 24. Februar 2022 endete zumindest für Bri etwas, was sich wie ein Dauerschlaf und eine vestörende Täuschung anfühlte. Als die Mauer fiel, dachten wir wohl, dass damit auch West und Ost im Allgemeinen zusammenwachsen könnten. Dass Russland, bzw. der im Kreml sitzende Machthaber Pläne schmiedete, zum 100. Gründungstag der Sowjetunion die Ukraine wieder Russland zuzuführen, wäre uns wohl kaum in den Sinn gekommen. Wir hätten besser zuhören sollen, ihm und vor allem den baltischen Staaten, die schon lange davor gewarnt hatten. Literatur rückte somit für Bri ein wenig in den Hintergrund, Fakten, Sachbücher etc. waren es, die sie beschäftigten. Lesen und auch noch darüber schreiben – dazu fehlten Kapazitäten, was sich auch in der geringen Menge der Posts auf dem Blog niederschlägt. Auch beim lesendenSatzzeichen war viel los – ebenso wie bei thursdaynext. Das Leseverhalten änderte sich, Fluchten und Sachbücher waren beliebt. Geruede kam zwar mehr zum Lesen aufgrund langer Fahrten zur Arbeitsstelle, doch darüber schreiben ging nun nicht mehr. Einzig awogfli blieb stabil und hat uns oft gerettet, indem sie geplante Termine übernahm. Wir hoffen euer Jahr war zumindest ein gutes Lesejahr und ihr seid von allerlei Unbill verschont geblieben. Und wir wünschen uns und euch ein Jahr 2023 mit neuen Chancen, schönen Erlebnissen und vor allem stählerner Gesundheit. Wie immer freuen uns über jede*n, der/die sich bei uns wohlfühlt und danken von Herzen für eure Treue.
Eure üblichen Verdächtigen

awogfli

Wahnsinn! So schwer wie heuer war es noch nie, meine Highfives auszuwählen. Auf meiner Bestenliste stehen elf Bücher, die qualitativ nur um Nuancen besser oder schlechter sind als die anderen. Davon sind meine ersten sieben Plätze von Autorinnen belegt. Hier kommt nun mein weibliches Buchfeuerwerk 2022:

Der Hausmann – Wlada Kolosowa
Platz eins meiner Buchstoffhöhepunkte geht wieder einmal völlig überraschend an einen Roman, der kaum auf dem Buchmarkt sichtbar wurde. Der knappe Sieg im Fotofinish ist für mich deshalb angebracht, weil dieses Buch so ungewöhnlich und innovativ ist. Es kombiniert und montiert grandios mehrere Literaturformen, die eigentlich auf den ersten Blick gar nicht so gut zusammenpassen: Graphic Novel, Chatunterhaltungen, Briefe, Blogs und klassischer Roman. Zudem ist die Geschichte aus dem Berliner Kietz auch noch total witzig und demoliert alle Klischees, die über Flüchtlinge, Millenials, Omas, Moslems und so weiter in unseren geistigen Schubladen lauern. Ein herrliches Lesevergnügen!

Mon Chéri und unsere demolierten Seelen – Verena Rossbacher
Dieser Roman hat wohlverdient den österreichischen Buchpreis gewonnen und liefert eine optimistische, witzige Geschichte über Wahlverwandtschaften, die eine neue selbstgewählte Familie formen und über das Sterben. Humor, positive Stimmung und Tod in einer Story zu vereinen, klingt wie ein nicht überbrückbarer, unlösbarer Konflikt. Dennoch ist der Autorin dieses Kunststück gelungen, wohl auch, weil wir Österreicher einen besonderen Bezug zum Sterben haben. Ganz großes Kino!

Giftiges Glück – Gudrun Lerchbaum
Auch meine nächste Nominierung ist ein schräger, ironischer und humorvoller Roman über psychodelischen, toxischen Bärlauch, der plötzlich in den Wäldern Wiens wild wächst und sehr viele Opfer produziert. Nachdem die Konsumenten ihre glücklichsten Momente erleben, sterben sie sofort ohne Schmerzen. In diesem unsäglichen Chaos zwischen Selbstmorden, Morden und Unfällen werden mehrere Protagonisten inklusive eines Inspektors grandios installiert. Was vom Setting her wie ein ganz normaler Krimi scheint, wird durch die Analogie zwischen diesem neuartigen Bärlauch, genannt Viennese Weed und allen Ereignissen rund um Corona, wie Coronaschutzmaßnahmen und Coronaleugnung zu einem witzigen bis wahnwitzigen Lesevergnügen. Sensationell!

Die Stimme – Jessica Durlacher
Mit einem rasanten Feuerwerk an spannenden Wendungen beleuchtet die Autorin Jessica Durchlacher die europäisch-jüdische Sicht auf muslimische Integration beziehungsweise auf einen muslimischen, antisemitischen Kulturkampf gegen westliche Werte. Eine in Holland seit langer Zeit integrierte Familie von Shoa-Nachfahren nimmt eine somalische Asylantin als Kindermädchen auf, die während Ihres Auftrittes bei der Fernsehsendung Die Stimme (analog zu The Voice of Germany) ihren Hijab vor einem Millionenpublikum abnimmt und ihre muslimische Religion infrage stellt. Was dann folgt, ist ein atemberaubender Spießrutenlauf für alle Protagonisten, der auch sehr zum Nachdenken anregt.

Hundepark – Sofi Oksanen
Einer der prophetischsten Romane dieses Jahr, dessen Handlung in der Ukraine spielt, kurz vor dem Krieg herausgekommen ist und die bei uns illegale, mafiöse Industrie aus Leihmutterschaft, Eizellenspenden und Adoptionen sehr kritisch beleuchtet. Die Geschichte thematisiert auch den ersten Krieg der Russen gegen die Ukraine ab 2014 und fokussiert vor allem das Leiden und die Ausbeutung von Frauen durch diese Machenschaften. Ein aufrüttelnder, nachdenklich machender, brutaler Anti-Wohlfühlroman.

Bri

Utopia Avenue von David Mitchell
Wer hier ein wenig mitliest, kennt meine Schwäche für gut erzählte, strukturell außergewöhnlich gebaute Geschichten. Wenn diese auch noch wie bei Mitchell aufeinander verweisen und ein Meta-Buch-Projekt ergeben, dann ist es um mich geschehen, dann gibt es kein Halten. Über mehr als 700 Seiten erzählt Mitchell schillernd von einer Sixties Band, die es nie gegeben hat, von der man sich aber nach kurzem wünscht, sie wäre echt und man könnte ihre Musik auch heute noch genießen. Dass hier der Bogen unter anderem zu Mitchells Debüt „Chaos“ gespannt wird, ist einfach genial. Mein absolutes Jahreshighlight, dessen Lektüre ich zwanghaft zog, weil ich nicht ertragen konnte, das Buch zu beenden.
Matrix von Lauren Groff
Historischer Roman der absoluten Extraklasse. Feministisch, wegweisend, mit Sog und so authentisch erzählt, dass es keine Dialoge braucht. Die historische Figur der Marie de France stand Patin für die Marie von Lauren Groff. Eine große Mysterikerin mit pragmatischem Sinn für das, was sein kann, wenn man nur die Zügel ein wenig locker lässt und sich Obrigkeiten nicht immer unterwirft. Ein besseres Leben für viele Menschen ist möglich. Keine Utopie, eine Möglichkeit.

Verbrenn alle meine Briefe von Alex Schulman
Eine Liebe, die nicht sein darf. Alex Schulman hat viel recherchiert für seinen Roman, in dessen Zentrum vor allem seine Großmutter steht. Verheiratet mit einem der angesehensten Schriftsteller Schwedens, jung und unglücklich, verliebt sie sich in einen jungen aufstrebenden Lyriker – später ebenso angesehen, wie ihr Mann. Diese Dreiecksgeschichte bestimmt die Zukunft der ganzen Familie und wirkt bis in die Gegenwart. Die Erkenntnis, weshalb seine Familie so dysfunktional ist, hat Schulman bestens literarisch verarbeitet.
Die Diplomatin von Lucy Fricke
Fred ist schon lange im diplomatischen Dienst, doch als sie in die Türkei versetzt wird, passiert etwas, dass ihre sonst so gleichmütige und eben diplomatische Zurückhaltung hart auf die Probe stellt. Entgegen besseren Wissens handelt sie anders als gewohnt und rettet damit nicht nur ihr Gewissen, sondern auch Menschen. Lucy Frickes Diplomatin ist eine wunderbare Frauenfigur, von deren Schlag man sich mehr in wichigen Positionen wünscht. Der Ton, den Fricke hier anschlägt ist umwerfend, witzig und klar. Unterhaltsam und politisch aktuell.
Dass die Erde einen Buckel werfe von Wolfgang Schiffer
Lyrik aus dem Hause Elif – was kann da schief gehen? Nichts. Wolfgang Schiffer lässt uns LeserInnen ganz tief in seine Erinnerungen, Gedanken und auch seine Seele blicken. Das macht demütig und ist wunderschön. Keine Angst vor Poesie – diese Texte tun einfach gut und nehmen einen gefangen. LESEN!

daslesendesatzzeichen

Der Erinnerungfälscher von Abbas Khider
Komprimiert, unterhaltsam, mit einem Augenzwinkern und mit großer sprachlicher Leichtigkeit schafft es Khider, seinen Protagonisten Said zu begleiten. Sensibel, mit Tiefgang, in einer wunderbaren Sprache verfasst, die für mich wie Balsam war – genau das richtige Buch für diese Zeit
Über Carl reden wir morgen von Judith W. Taschler
Über 40 Jahre begleiten wir die österreichische Familie Brugger bei allen Höhen und Tiefen ihres Daseins. Los geht es in den 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts in der Hofmühle. Fesselnd, klug und sprachlich überzeugend: 460 Seiten beste Unterhaltung.
Eine Formalie in Kiew von Dimitrij Kapitelman
Dimitrij Kapitelmans „Eine Formalie in Kiew“ ist ein schmales Bändchen mit nicht einmal 200 Seiten und jeder Satz auf diesen wenigen Seiten sitzt. Es ist eine Kunst, seine Leser*innen so luftig-schwebend durch Themen zu führen, die gewichtigen Inhalts sind. »Ich weiß nicht, ob ich Kiew je wiedersehen werde. Und was dann noch übrig sein wird von dem, was es einst war.« hat Dmitrij Kapitelman angesichts der russischen Invasion in die Ukraine im Frühjahr 2022 gesagt. Dieser Satz klingt bei jedem Satz des wunderbaren Buches mit und lässt einen sprachlos vor Wut und Trauer zurück.
Schlangen im Garten von Stefanie vor Schulte
Ein Buch, das Roman ist und doch Lyrik, das Poesie ist und doch Prosa, das vom Tod handelt und doch vor allem vom Leben und das uns lehrt, dass die permanente Optimierung, die die Gesellschaft gern sieht und oft erwartet, ein Weg ist, den man gehen kann, aber nicht muss.
Wie sagte eine Teilnehmerin beim Onlinetalk mit der Autorin sinngemäß? – „Wo waren Sie so lange, Frau vor Schulte? Mir hat Ihre Sprache so gefehlt!“
Die Buchhändlerin von Paris von Kerri Mahler
Ein süffiger Lesespaß, bei dem man nebenbei viel über die Literaturszene Paris‘ zwischen den späten Zehnerjahren des 20. Jahrhunderts und 1936 erfährt. Ein Buch, das man gut mal zwischenschieben kann, wenn man keine Lust auf schwere Kost oder anstrengende Sprache hat, sondern einfach gerne mal wieder einen unterhaltsamen Schmöker mit informativem Mehrwert lesen möchte.

Geruede

Graue Bienen von Andrej Kurkow
Bringt uns zum einfachen Leben auf dem ukrainischen Land im Donbas, seit 2014 hart umkämpft und geteilt. Dank diesem Buch konnte der ehemals westwärts orientierte Lesefokus eine neue Richtung einschlagen und in dieser Wirklichkeit im Osten andocken.
Die Frau in der Themse von Steven Price
Große Krimiunterhaltung, super Setting, glaubwürdige Figuren, eine in sich abgeschlossene Komposition auf sprachlich extraordinärem Niveau. Hier merkt man den Lyriker und das macht einfach irre Spaß.

Jimi Hendrix live in Lemberg von Andrej Kurkow
Skurrile, teils surreal anmutende Großstadtgeschichte, die mit Hilfe des magischen Realismus sowohl neue Freiheiten als auch alte Hinterlassenschaften, und schräge Geschäftsideen aufzeigt. Es ist Aufbruch, Überwindung, Neuanfang und das schiere Leben. Immer schwebt das Damoklesschwert einer möglichen drohenden Macht über allem. Ein vielschichtiges Buch, das schwer zu beschreiben ist, am besten einfach selber lesen.
Das All und das Nichts von Stefan Klein
Zum zweiten Mal gelesen, denn man kann sich nicht oft genug vergegenwärtigen wie unglaublich genial, vielschichtig und abwechslungsreich die Schöpfung ist. Die poetische Darstellung schafft die Möglichkeit, sich über die alltägliche Unbill hinwegzusetzen.
Quendel – Windzeit, Wolfzeit von Caroline Ronnefeldt
Ich habe das ungeheuerliche Potential dieser Reihe lange vor Denis Scheck erkannt und auf dem Blog gefeiert. Der dritte Band wird hier ebenfalls noch hymnisch besprochen werden – alleine, ich zögere die Lektüre vor Angst, die Buchdeckel schließen zu müssen noch hinaus.

Thursdaynext

Erstaunen von Richard Powers
Richard Powers, von dem ich bereits einiges mit Gewinn gelesen habe hat mich mit diesem Roman komplett von den Socken gerissen. Tiefe Liebe, Empathie, Vertrauen, Hoffnung … diese sehr spezielle Vater -Sohn -Geschichte hallt noch immer nach. Wird mir auch nicht mehr aus dem Kopf gehen. Poetisch, berührend und wunderschön. Ein leuchtender Roman.
Utopia Avenue von David Mitchell
war der Knaller des Jahres. 60 er Jahre feeling, Rockbands, Legenden des Rock und eine Atmosphäre die einfängt und bis zum Schluss verzaubert. Als begeisterte Mitchell Leserin fanden sich immer wieder Anknüpfungspunkte an vorherige Geschichten eines der besten Geschichtenerzählern der westlichen Welt. Dazu noch eine Prise Magie und magische Realität, wunderbar.
Der schwarzzüngige Dieb von Christopher Buehlmann
Christopher Buehlman schreibt Fantasy wie ich sie liebe. Ausschweifend erzählt, dabei stringent, leicht altmodisch, mit stetigem aber sachtem Humor ausgestattet, ein großartiges weitreichendes Setting und die geballte Fabulierlust des Autors. Highfantasy für die Highfive 2022.
Bonobo Moussaka von Adeline Dieudonneé
Adeline Dieudonneé und ihre prekär lebende, alleinerziehende Mutter sind böse, klarsichtig, auf den Punkt die Finger in die seit langem schwärenden Wunden der Gesellschaft legend und dabei witzig. Eine sehr besondere kurze Erzählung, die da an Weihnachten ihren Anfang nimmt und thematisiert, woran die Welt krankt und das in einer außergewöhnlich guten Schreibe. Adeline Dieudonneé und ihre prekär lebende, alleinerziehende Mutter sollte man nicht verpassen.
Pantopia von Theresa Hannigs
war der Überraschungsscifi des Jahres. Eine Utopie, was der Grund war, weswegen ich überhaupt zu der, mir bis dato unbekannten, Autorin griff und es war ein echter Glücksgriff. Gesellschaftskritisch, ein kenntnisreicher, klarer Blick auf die Welt und ein ausgesprochen cleverer Plot kommen da zusammen mit leichter Lesebarkeit. Theresa Hannigs Utopie einer künstlichen Intelligenz, die über die Fähigkeit verfügt, die Welt zu retten und damit beim Geld beginnt, ist ein Hoffnungsschimmer und positives Zukunftsszenario in einer sonst momentan sehr düsteren Welt. Stilistisch nicht überwältigend, aber die Grundidee hat den Platz in den Highfives verdient.

15 Gedanken zu “Die Üblichen Verdächtigen präsentieren ihre Highfives des Jahres 2022

  1. Spannend was euch so gefesselt hat. Von Bri wusste ich zumindest Platz 1 und von Geruede werde ich „Das All und das Nichts“ vormerken. Awogfli schnelle gute Besserung und ganz herzliche Grüße an daslesendesatzzeichen

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  2. Lieber Alexander, ja, das ist auch für mich immer wieder eine Überraschung, wie vielseitig wir lesen und wie viel einem durchgeht. Einen guten Rutsch auch Dir, bis im nächsten Jahr! LG, Bri

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  3. Lieber Wolfgang, das war für mich ganz klar. Es ist eines der Bücher, die mich am meisten bewegt und getragen haben. Danke dafür. Ich wünsche einen guten Rutsch und ein wunderbares, gesundes 2023!! LG, Brigitte

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  4. Liebe Alex, da nicht für. Das ist einfach die Wahrheit – Du hast uns den A… gerettet 😉 Ich hoffe, ich komme 2023 wieder mehr zum Schreiben, es fehlt mir. LG und rutsch gut rüber.
    Bri

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  5. Lieben Dank, dass unter den vielen guten Empfehlungen auch mein „Dass die Erde einen Buckel werfe“ dabei sein darf … Danke!

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  6. Schön, diese vielen Tipps. Es ist schier unglaublich, wie viele Bücher im Jahr erscheinen, und am Ende des Jahres stehe ich verblüfft, was ich alles verpasst habe. Gut, dass es diese Listen gibt. Einen guten Rutsch an alle!

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