Was vom Jahr übrig blieb …
2021 – und täglich grüßt das Murmeltier. So kamen wir uns ab und an vor, als sich gewisse gesellschaftliche Diskussionen von vor einem Jahr wiederholten. Kontaktbeschränkungen, ein heruntergefahrenes soziales Leben, Kunst und Kultur am Rande des Abrungs, buchmessenabsagen bzw. sogenannte bybride Messeauftritte … das Virus hat uns nach wie vor im Griff. Lesen kann ja durchaus etwas heilsames, etwas therapeutisches haben. Dafür gibt es sogar einen eigenen Begriff: Bibliotherapie. Wir haben uns darüber unterhalten, ob sich unser Leseverhalten in diesem zweiten vom Virus, dessen Namen niemand mehr hören will, geprägten Jahr sich verändert hat. Einzig awogfli kann von sich behaupten, dass das nicht der Fall ist. Bri, daslesendesatzzeichen und Thursdaynext hingegen haben bemerkt, dass die Lektüre Fluchten bieten musste, keinen Bezug auf die derzeitige Situation mit dem Virus haben sollte und am besten unterhaltsam und eher leicht zu sein hatte. Das mag mit der langsam einsetzenden Erschöpfung ob der allgemeinen Zustände, dem manchmal doch aufwändiger zu händelden Alltag oder auch der Anwesenheit von Pubertieren zusammenhängen. Klar ist: wir wünschen euch allen auf jeden Fall einen guten Start in das Jahr 2022 – sei es von guter Lektüre jeglicher Art geprägt. Bleibt alle auf jeden Fall gesund! Wir freuen uns über jede*n der/die sich bei uns wohlfühlt und danken von Herzen für eure Treue.
Eure übelichen Verdächtigen
awogfli
Da ich heuer das gesamte Oeuvre meines absoluten Lieblingsschriftstellers, Joseph Roth, nochmals gelesen habe, müssten auf den ersten fünf Plätzen ausschließlich Roth-Romane stehen. Das wäre total langweilig, deshalb präsentiere ich Euch die besten Neuerscheinungen des Jahres:
Viktor – Judith Fanto
Platz eins meiner Buchstoffhöhepunkte geht völlig überraschend an einen Debütroman. Er vermittelt tatsächlich sehr viele neue und innovative Aspekte jüdischer Identität in den heutigen Zeiten. Protagonistin Geertje deckt bei ihrer Odyssee, ihre jüdischen Wurzeln zu finden, manches Familiengeheimnis auf. Autorin Judith Fanto vermittelt der Leserschaft durch Rückblenden auch einen tiefen Einblick in das bildungsbürgerliche jüdische Leben in Wien in der Zwischenkriegszeit. Ich war völlig hingerissen von der humorvollen, klugen, tiefsinnigen, traurigen, furchtbaren, spannenden, lehrreichen Familiengeschichte über Selbstfindung mit einer gehörigen Portion Geschichte und mit einem überraschenden Finale.
Blütenschatten – Analena McAfee
Diese beißende, bitterböse Story über die etablierte Künstlerin Eve, die anfangs sehr sympathisch wirkt und sich schlussendlich als völlige Antiheldin entpuppt, hat mich vom Plot her sehr überrascht und schwer begeistert. Sprachlich anspruchsvoll wird mit ätzender Gemeinheit über den Kunstbetrieb und vieles andere gelästert, wobei gleichzeitig die Figur der feministischen Identifikationsfigur Eve abmontiert wird und sich menschliche Abgründe offenbaren. Das ist ganz mein Roman, der quasi im Fotofinish kurz vor Weihnachten noch viele andere sehr gute Werke im Sauseschritt überholt hat
Und immer wieder Aufbrechen – Sisonke Msimang
Obwohl dieses Werk eigentlich non-fiktional als Biografie geschrieben wurde, ist es literarisch so anspruchsvoll, dass es sich unbedingt mit den heurigen Neuerscheinungen der Belletristik als Romanbiografie messen muss. Ebenso wie in vielen anderen meiner diesjährigen Lieblingswerke geht es um Identitätsfindung und ein spannendes Familienschicksal, eingebettet in politische Wirren und Umbrüche in Südafrika. Eine sehr internationale Fluchtgeschichte voller Entwurzelung, durch die unzähligen Umzüge von Land zu Land, von Exil zu Exil, in der die Autorin trotz Widerständen ihre Heimat, ihr Glück, ihren Erfolg und ihre Identität finden muss. Irgendwie kann man in diesem Buch gleichzeitig dem ganzen Land Südafrika als auch dem Menschen Sisonke Msimang beim Kampf um Autonomie zusehen.
Stille Jahre – Alena Mornštajnová
Meine tschechische Lieblingsschriftstellerin hat es auch heuer wieder in die Top-Five geschafft. Die Autorin versteht es meisterhaft, Menschenschicksale mit Geschichte und vor allem mit Politik zu verweben. Diesmal geht es um den tschechischen Kommunismus. Beobachtet wird eine einzelne Familie, die durch die Politik und die unterschiedlichen Ansichten schlicht und ergreifend auseinandergerissen wird, beziehungsweise auch durch Sturheit und Egoismus, keine Kompromisse in den Ansichten eingehen zu wollen, in sich selbst implodiert. Protagonistin Bodhana kämpft gegen das Schweigen und die Familiengeheimnisse, sie deckt in der Gegenwart allmählich die tragische Geschichte ihrer Familie auf.
Abara da Kabar – Emil Bobi
Schräger Plot, kluge tiefe Analysen, wunderbare Sprache und Sprachwitz kennzeichnen diesen Roman, der sich zentral mit der Dysfunktionalität von Sprache beschäftigt und der mich regelrecht vom Hocker gerissen hat. Die völlig abgefahrene, intellektuell höchst anspruchsvolle, teilweise gruselige Geschichte hat mich in ihr Kaninchenloch hineingesogen und einfach nicht mehr losgelassen. Dies ist übrigens außer Joseph Roth der einzige Autor, der es heuer in meine Bestenliste geschafft hat.
Bri
Die Kinder hören Pink Floyd von Alexander Gorkow
Tief im Westen der BRD, in Büderich, wo der Grundschulausflug ins Klärwerk, zu einem der Wahrzeichen der Stadt, den zwei Klärtürmen, in einer Prügelei enden kann, wächst der 10 Jahre alte Ich-Erzähler (vermutlich Alexander Gorkow selbst) auf. Seine Kindheit ist geprägt von Situationen und Menschen, die man aus heutiger Sicht befremdlich finden mag, die aber den Roman äußerst untehaltsam gestalten und loriotesque erstrahlen lassen. Nie werde ich die Szene vergessen, in der der Erzähler mit einem seiner Freunde in dessen elterlichen Swimmingpool nach kleinen Goldbarren taucht …
Krach von Tijan Sila
Eine Coming-of-Age Geschichte, der dritte Roman von Tijan Sila, der alles genau beachtet, was man beachten sollte, um einen außergewöhnlichen Roman dieses Genres zu schreiben und gleichzeitig so vieles anders macht, dass er einen damit einfach umhaut ist ein absolutes Must-Read!
Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid von Alena Schröder
Die Art von Literatur, die vielleicht nicht unbedingt in den Feuilletons besprochen wird – leider und zu Unrecht – aber so dringend gebraucht wird. Gerade in unseren Zeiten, gerade in Deutschland. Weil sie versöhnlich ist, ohne zu vertuschen, Unrecht anspricht, Ambivalenzen aufzeigt und nachvollziehen lässt und Türen für Diskussionen öffnet, die echte Diskussionen sind.
Nacht wird es immer von Willy Vlautin
Vlautin schreibt schonungslos, direkt, trocken, ohne Schnörkel und gibt Hoffnung, ohne falschen Zuckerguß. Das ist echt. Er blickt tief in die Seelen derer, die durch die Gier der Mächtigen und Reichen abgehängt werden und täglich darum kämpfen, den Kopf über Wasser zu halten und erzählt das alles meisterhaft.
Das Leben keiner Frauvon Caroline Rosales
Gibt es so etwas wie Frauensolidarität und wenn ja, wovon ist diese gekennzeichnet beziehungsweise, wie erlangt man sie? Caroline Rosales hat den für mich am überraschendsten Frauen-Roman (Achtung: hiermit ist nicht gemeint, dass dieser Roman für Frauen geschrieben worden ist) meines Lesejahres 2021 geschrieben. Humorvoll, rotzfrech, manchmal respeklos aber dennoch nicht unverschämt, die kleinen Feinheiten hochhaltend. Frauen aller Länder, seid cool miteinander und lest dieses Buch, das viel über uns weiß und uns den Spiegel direkt vorhält. Wir haben unser Leben selbst in der Hand, vergesst das nie.
daslesendesatzzeichen
Marianengraben von Jasmin Schreiber
Die Hauptfiguren Paula und Helmut sind in Trauer, doch das Schlimmste, was man über dieses Buch denken könnte, wäre: Das ist mir zu schwermütig, schwierig. Bitte nicht fehlleiten lassen, von den großen Themen Leben + Tod, Trauer, Sinn des Lebens. Es gibt kaum ein Buch, das so glücklich macht, wie dieses! Gerade in den außergewöhnlichen Zeiten, in denen wir uns durch Corona befinden, brauchen wir jeden Glücksmoment doppelt und dreifach. Hier bekommen die Leser unendlich viele davon auf (leider nur) 252 Seiten.
Über Menschen von Juli Zeh
Eine Liebeserklärung ans Land Brandenburg, an die Dorfgemeinschaft im Allgemeinen und somit auch an alte Werte, die durch die Anonymität der Stadt vielerorts verloren gehen. Es ist aber nicht naiv, sondern es skizziert äußerst präzise alle Vor- und Nachteile.
Das Hauptthema des Buches ist für mich die schwierige Frage, wie sehr man Menschen anhand ihrer politischen Gesinnung, ihrer Einstellung ganz allgemein, beurteilen muss/darf/kann/sollte oder eben, wie sehr man dies unterlassen könnte/sollte/müsste/dürfte.
Dies zu thematisieren, ist wohl das eigentlich Mutige und Innovative an diesem extrem süffigen Buch, das sich unglaublich gut und schnell lesen lässt.
Junge mit schwarzem Hahn von Stefanie vor Schulte
Eine literarische Perle, dieses Debüt! Der elfjährige Martin lebt in einem Dorf mitten im ländlich-bergigen Nirgendwo. Die Dorfgemeinschaft ist sich sicher: Der Junge, der ständig den schwarzen Hahn bei sich hat, muss einen Pakt mit dem Teufel geschlossen haben, nur so kann man sich in dieser eindimensionalen Bergwelt das sonnige Gemüt dieses Waisenjungen erklären. Ein ortsfremder Maler nimmt ihn mit auf Reisen und so kommt der Junge in die weite Welt und sucht dort sein Glück. Eine erdige, verknappte Sprache beschreibt seinen Weg – ein mystisch-märchenhaft-realistischer Roman ist dabei herausgekommen
Wolkenkuckucksland von Anthony Doerr
Wer 2021 nur ein Buch lesen will, sollte dieses Buch lesen!
Doerr erzählt süffig, unterhaltsam und dennoch auf hohem Niveau. Mal bewegen wir uns in der Zukunft, mal in der Vergangenheit, mal in der Gegenwart. Dazu kommen weitere Schichten, nämlich die unterschiedlichen Protagonisten. Wir begleiten sie in verschiedenen Phasen ihres Lebens und bekommen so ein vollkommen abgerundetes Bild. Jeder dieser Erzählstränge hat so viel Power, Sogkraft und Potenzial, dass man das Gefühl hat, mehrere Bücher in einem geschenkt zu bekommen. Dabei geschieht dies mit so viel Liebe und Sorgfalt, dass man sich kaum lösen kann. Selten haben mich die vielen Seiten so wenig abgeschreckt, selten hat mich ein Roman so überzeugt wie dieser.
Spitzenreiterinnen von Jovana Reisinger
Ein cooler Wurf! Reisinger nimmt die Frage unter die Lupe, was in der derzeitigen Gesellschaft eigentlich der Motor für das Handeln der Frauen ist. Sind es nun wir Frauen selbst, die sich unter Druck setzen und in Stereotype pressen lassen oder sind es die Männer, die dies mit uns machen? Es gibt viele unerwartete Entwicklungen bei der Aufbereitung der neun näher besprochenen Charaktere –sie alle eint die Frage nach dem Antrieb ihres Handels. Ein spannender Ansatz, dieser radikal-feministische Blickwinkel.
Thursdaynext
Saving Time von Jodi Taylor
„Saving Time“, der dritte Band um Matthew Farrells Erlebnissen als Auszubildender bei der Time Police, ist der Sohn von Dr. Madeleine Maxwell und Chief Technical Officer Farrell aus Jodi Taylors Reihe der Chroniken von St. Mary’s war eines meiner Highs. Abgefahrene, liebenswerte, schräge Science Fiction, mit ausgesucht speziellem Personal das man ins Herz schließt, die Zeitreisen als Grundthema hat. Während die Zeitpolizei immer bemüht ist, die tatsächlich fragile ZEIT zu schützen sind die dort als Chaotenhaufen verschrienen Historiker vom St. Mary’s Institut dabei, wichtige Ereignisse vergangener Zeiten zu erforschen, dokumentieren und zu beobachten. Im Gegensatz zur Time Police stinken ihre Pods (die Reisetransportmittel) auch immer nach Kohl. Mit zu verfolgen wie es den heißgeliebten Protagonisten vorangegangener ebenfalls umwerfend witziger und fesselnder Bände ergangen ist sowie die Spannung ob es ihnen gelingen wird die Zeit zu retten, wie bereits im Titel zart angedeutet, war ein ausnehmend kurzweiliges und actionreiches Lesevergnügen. Ich kann alle drei Bände dieser bisher leider nur auf englisch erschienen Romane wärmstens empfehlen, das Lesevergnügen mehrt sich allerdings noch, wenn man sich die Chronicles of St. Mary’s zuvor einverleibt. Diese sind bereits teilweise in deutscher Übersetzung erschienen.
Corvus von Neal Stephenson
Trotz, eventuell aber auch gerade wegen aller Zwiespältigkeit ist mit „Corvus“ von Neal Stephenson als großartiges, aber auch stark fordendes Werk im Gedächtnis geblieben. Retrospektiv ist es ein in mehrerer Hinsicht fulminanter Roman über Ethik, virtuelle Welten und das Weiterleben in einer solchen. Wort- und Bildgewaltig was das Kopfkino anbelangt und tief in die verschiedenen Lösungsansätze des Unendlichen Lebens eintauchend. Great!
Lucky Luke Zarter Schmelz von Ralf König
Eine sehr große Freude war der von Ralf König zum 75. Jubiläum von Lucky Luke gestaltete Sonderband „Zarter Schmelz“. Dank großherziger Lesebloggerfreundin sogar mit Originalzeichnung und Signatur vom Knollennasenmeister des Herzens ausgestattet steht er jetzt neben den anderen Lonesome Cowboybänden und reiht sich bestens in die Reihe ein. Historisch interessant, dass die Bevölkerung des „Wilden Westens“ damals diverser war als heute allgemein angenommen. Cineastische Anleihen sind deutlich sichtbar, die Story trägt sich aber auch von alleine.
Die Eloquenz der Sardine von Bill François
„Die Eloquenz der Sardine“ ein Ausflug in fast schon lyrische blaue Tiefen den der Autor und Wissenschaftler Bill François einem schenkt, ist für mich das Sachbuch des Jahres. Wunderschön, zum Träumen und Staunen und großer Dankbarkeit für die Wunder der Evolution. Das genießt man in kleinen, sorgfältig abgemessenen Häppchen um möglichst lange in dieser zauberhaften Schreibe und den Erzählungen schwelgen zu können.
The Stranger Times von CK McDonnell
Einen unverschämt frischen und ideenreichen Fantasy hat der Humorist, Kabarettist und im deutschsprachigen Raum bisher noch unbekannte Autor C.K. McDonnell rausgehauen. „The Stranger Times“ ein Urban Fantasy macht Spaß allein schon durch Sprachwitz, Wortwahl und überzeugende Beobachtungsgabe menschlicher Wesen. Auch die nichtmenschlichen Charaktere sind reizvoll gestaltet, die Action und die Rätseleien tun ihr Übriges um LeserInnen einzufangen und wünschen zu lassen, dass das Buchende noch lange fernbleibt. (Was es leider nicht lange tut, aber Nachschub wurde versprochen.)
@awogfli ich hab nur meine gesehen und die sind es nicht … aber ich hätte tatsächlich dieses Jahr mehr Bücher nennen können, dann wäre es zumindest ausgeglichen gewesen. Die Entscheidung fiel dann letztendlich aufgrund der allgemeinen Bekanntheit der jeweiligen Bücher eben, wie sie fiel. LG
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@Alexander Carmele Liebe Grüße aus Österreich und ein schönes neues Jahr
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@Bri hast schon mal durchgezählt, wir haben einen Autorinnenüberhang bei den best of – TSCHAKA! 🙂
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Danke – ich bin auch gespannt, was uns alles so einfallen wird 😉 Du bist auch in Berlin? Liebe Grüße aus Köpenick!!
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Tolle Liste. Bin gespannt auf deine Besprechungen im neuen Jahr! Guten Rutsch!! Viele Grüße aus Berlin.
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