Geschichten als Lebenselixier – danke Joan Didion

23. Dezember 2021 – Joan Didion, eine der ganz großen amerikanischen Denkerinnen und Schriftstellerinnen ist tot. Natürlich wusste ich, dass das einmal passieren würde, doch irgendwie gibt es Menschen, bei denen ich immer wieder völlig überrascht bin, wenn es dann so ist. So auch bei ihr. Die letzten beiden Tage gingen mir immer wieder Dinge durch den Kopf, die mich nach und nach zu einem zentralen Punkt führten: Prägungen des eigenen Denkens und Fühlens durch Film, Kunst und Literatur. Und Joan Didion war, ober besser ist, eine der Frauen, die mein eigenes Denken und damit das, was ich bin, sehr geprägt haben. Zu Beginn ganz unbewusst, denn dass unter anderem sie gemeinsam mit ihrem Mann das Drehbuch für einen Film verfasst hatte, der mich als Teenager nachhaltig beeindruckt hat, war mir lange nicht klar gewesen. Ihre Essays und Romane habe ich erst später entdeckt und leider auch noch nicht in Gänze gelesen oder vielleicht ja auch glücklicherweise, so bleibt mir noch einiges zu erlesen. Ich hoffe darauf, dass die systematische Übersetzung ihrer Werke durch Antje Rávik Strubel komplettiert wird und ich meine Sammlung damit ebenfalls vervollständigen kann.

„Menschen am Fluss“ erschien auf deutsch 1995 bei Rowohlt – ein altes Exemplar des Romans liegt noch in Nürnberg, meiner alten Heimat. Tatsächlich war dies der erste Roman von Didion, den ich relativ zeitnah nach dem Erscheinen auf dem deutschen Mark gelesen habe. Damals hatte ich gerade mein Abitur auf dem Zweiten Bildungsweg nachgeholt und ging mit vielen neuen Impulsen aus dieser Zeit in das Studium, das ich immer wirklich absolvieren wollte: Ich wollte Literatur studieren, zunächst die deutsche, weil mich die Kunst, mit Sprache ausdrücken zu können, was man denkt und damit Verbindungen zu anderen herstellen zu können, von je faszinierte. Dazu gehört auch immer, andere Denkmodelle offen zu betrachten und in Vergleich zu setzen, den eigenen Standpunkt zu finden, sich einzuordnen und dennoch nicht in der Masse zu verschwinden. Genau das macht für mich die Kunst Didions aus.

Ihr Vermögen, blitzgescheit unterschiedliche Gegebenheiten in einen Kontext zu setzen und Versatzstücke zu einem Bild zu montieren, das Ganze noch sprachlich präzise und künstlerisch auch mit Hilfe von Auslassungen zu präsentieren, ist die hohe Kunst in der Schriftstellerei. Gleichgültig in welcher Ausprägung: fiktional oder non-fiktional. Didion hat sowohl im Sachbuch als auch in der Belletristik durchweg genau das geschafft. Ihre persönlichsten Bücher – „Das Jahr des magischen Denkens“ und „Blaue Stunden“ – sprechen die Menschen ganz besonders an, weil sie hier den Blick unverstellt und extrem persönlich auf sich selbst richtet. Und das zu einer Zeit, in der sich die meisten Menschen von ihrer Umgebung zurückziehen: während der Trauer um geliebte Menschen.

Didion verlor ihren Mann plötzlich und unerwartet – er starb schnell, ohne vorherige Anzeichen und in ihrem Beisein, ohne dass sie etwas daran hätte ändern können, an einem Herzinfarkt. Das Jahr danach bezeichnete sie als das „Jahr des magischen Denkens“ und schrieb ihre Erfahrungen über diesen Verlust auf, um die Basis ihres Lebens wiederherzustellen. Doch es gelingt ihr nicht wirklich. Der Einschnitt ist zu groß, die ihr immer eigene Klarheit stellt sich nicht wieder ein. Wie auch? Jede*r der/die solch eine existentielle Erfahrung erlebt hat, weiß, dass die Welt danach eine andere ist. Der Tod ist etwas, was zum Leben gehört und dennoch so weit weg von uns heutigen Menschen, dass es uns jedes Mal wieder kalt erwischt. Wir sind auf das Sterben nicht vorbereitet. Wir sehen es kommen, aber es überrascht uns dennoch. Und wenn wir es nicht kommen sehen können, zieht es uns den Boden unter den Füßen weg. Didion musste diese Erfahrung nach dem Tod ihres Mannes bald wieder machen. Dieses Mal ging es um ihre (Adoptiv-)Tochter, deren früher Tod wiederum nicht unbedingt unerwartet kam, war sie doch immer wieder mit schwerwiegenden Symptomen im Krankenhaus und zuletzt länger im Koma. Aber das eigene Kind zu überleben steht natürlich nie auf dem Lebensplan und somit beschäftigt sich Didion in „Blaue Stunden“ nicht nur mit dem Sterben von Qunintana, sondern mit all dem, was in ihrem gemeinsam Leben gut oder vielleicht auch weniger gut gelaufen war. Dass sie ihr eigenes Tun dabei hinterfragt, macht sie authentisch und sympathisch.

„Woher ich kam ist viel mehr als nur Spurensuche in der eigenen Familie. In diesem Buch verknüpft Didion die Geschichte der Urbarmachung Kaliforniens mit den Erzählungen der eigenen Familie über Entbehrung und Wanderschaft. Hier entsteht das Tableau für die gesellschaftliche Entwicklung Amerikas, die bis heute anhält und die Menschen spaltet. Klug analysiert sie die Zusammenhänge zwischen kapitalistischen Vorgängen und politisch, gesellschaftlichen Entwicklungen, die die Menschen häufig verbittert zurücklassen. Wer Amerika ein bisschen besser verstehen will, kommt an dieser Lektüre nicht vorbei.

Der Roman von ihr, der mich bisher am meisten beeindruckt hat, trägt den Titel „Das Letzte, was er wollte“. Als Netflix Verfilmung ist er nun wieder vielen Menschen bekannt geworden, steht aber dem Buch in einigem hinten an. Man muss diesen Roman genau lesen, die Leerstellen selbst füllen und erwischt sich dabei, dass man, wie die Hauptfigur des Romans, eigene Wissenslücken recherchiert, jedoch ohne wie sie ins Fadenkreuz verschiedener Staatsorgane zu geraten. Ein spannendes, literarisch ausgefeiltes Stück.

Was für mich bei allem immer wieder durchscheint, ist die Tatsache, dass wir Geschichten brauchen, um leben zu können. Didion selbst schrieb in Ihrem „Weißen Album“: „Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben.“: Für die Geschichten Joan Didions bin ich mehr als dankbar und werde diese immer wieder und mit großem Genuß lesen.

„In manchen Breitengraden gibt es vor der Sommersonnenwende und danach eine Zeitspanne, nur wenige Wochen, in der die Dämmerungen lang und blau werden. Während der blauen Stunden glaubt man, der Tag wird nie enden. Wenn die Zeit der blauen Stunden sich dem Ende nähert (und das wird sie, sie endet), erlebt man ein Frösteln, eine Vorahnung der Krankheit: das blaue Licht verschwindet, die Tage werden schon kürzer, der Sommer ist vorbei.“
Aus „Blaue Stunden“

11 Gedanken zu “Geschichten als Lebenselixier – danke Joan Didion

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  2. Liebe Thurs, ja, genau das trifft es so verdammt gut. Immer wenn so ein Mensch geht, dann habe ich das Gefühl, es erlischt etwas. Die Welt wird ein wenig dunkler, zumindest für kurze Zeit. The stars look vera different today- sang Bowie. LG und noch einen schönen zweite!!

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  3. Lieber Alexander, danke Dir für Deinen wunderbaren Kommentar. Die Werke, die ich hier kurz angerissen habe, bilden ja nur einen Ausschnitt. Da gibt es noch einiges anderes von ihr und alles ist, wie sie selbst, außergewöhnlich. Das sehe ich genau wie Du. Danke auch für das Zitat, denn es zeigt ihre große Stärke, ihr Empfinden auf die allgemeine Ebene zu heben, ohne sich zu vergessen und dabei gleichzeitig, wie Du so treffend schreibst, sogar im Verklingen dem Stummen Ausdruck verleihen kann. Das hast Du wunderbar formuliert. LG, Bri

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  4. Lieber Bernd, ja traurig und erstaunlich, wie sehr es mich manchmal trifft, obwohl ich die Menschen ja nicht persönlich kannte. Aber es gehört eben auch zum Leben dazu, dass man irgendwann gehen muss. Ich wünsche Dir noch einen schönen zweiten Weihnachtsfeiertag und auf jeden Fall einen guten Jahresausklang. Herzliche Grüße zurück, Bri

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  5. Ich schließe mich an. Danke für den schönen Nachruf. Joan Didion hat mich zutiefst bewegt. Ihr Tod macht mich betroffen. Sie ist außergewöhnlich in allem gewesen, was sie sagte, tat, schrieb und lebte. Danke für die Aufzählung ihrer Werke, so dass man sie sich alle noch mal vor Augen führen kann. Sie lohnen, immer wieder gelesen zu werden. Ich erinnere an eine andere Passage aus den „Blauen Stunden“:

    „Beachten Sie auch, wie lange ich brauchte – in Aufzeichnungen, die aus einem bestimmten Grund Blaue Stunden heißen, Aufzeichnungen, die Blaue Stunden heißen, weil ich, als ich an ihnen zu schreiben begann, an wenig mehr denken konnte als an das unvermeidliche Nahen dunklerer Tage –, um Ihnen diese eine ins Auge springende Tatsache mitzuteilen, wie lange ich brauchte, um das Thema [Altern] so anzugehen, wie es sich darstellte.“

    Eine wunderbare Stimme ist nun verklungen, die selbst noch im Verklingen dem Stummen Ausdruck verlieh.

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  6. Liebe Bri,
    trraurig, Abschied zu nehmen, sei es von eigenen Angehörigen, woraus Du aus den Büchern von Joan DIdion zitierst, oder eben auch von Leitfiguren, literarischer, geistiger oder anderweitiger Prägung. Dazu hab‘ ich Deine beiden Besprechungen aus 2020 nochmal nachgelesen.
    Trotz alledem – guten Jahresausklang!
    Herzliche Grüße
    Bernd

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