Bei preisgekrönten Büchern, vor allem wenn ein Werk den deutschen Buchpreis erhalten hat, erlaube ich mir immer, vorab ein knackiges Fazit anzubringen – inklusive einer persönlichen Wertung, ob der Autor meiner Meinung nach die Auszeichnung verdient hat.
Ist es ein wichtiges Buch – Ja absolut wichtig.
Hält es, was der Hype verspricht? – Ja.
Hat es den Buchpreis verdient? – Ja.
Ist es das beste Buch, das Du 2019 gelesen hast? – Nein.
Ist es das beste 2019 erschienene deutschsprachige Buch, das Du gelesen hast? – Nein, da gab es noch ein paar weniger bekannte Österreicher und Schweizer, die ich wesentlich besser fand. Mir gefiel sogar ein älteres Buch von Stanišić um eine kleine Nuance besser (Wie der Soldat das Grammophon repariert).
Aber nun detailliert zu den Hintergründen dieser Zusammenfassung:
In Herkunft webt Saša Stanišić in Form eines autobiografischen Romans einen Teppich aus Geschichten und Anektdoten, aus Erinnerungen, Fakten und Fiktion, die sich mit seiner Jugend im bosnischen Višegrad, der Flucht nach Deutschland aus einem zerissenen Land im Krieg, der Integration in die deutsche Gesellschaft, seiner Identität und seiner Familie beschäftigen.
Es ist ein sehr persönliches und sehr wichtiges Buch, denn es zeigt vor allem, aus welchen einzelnen Schnipseln: Erinnerungen, Erfahrungen, Identitäten und Identifikationen sich der Autor schlussendlich als Ganzes zusammensetzt. Da Saša Stanišić ja eine bosnische Fluchtbiografie hinter sich hat und sich schon alleine die unterschiedlichen im Krieg befindlichen Ausgangs-Ethnien wie eine Bruchlinie auch quer durch seine Familie ziehen, ist er das Paradebeispiel eines mehrfach Zerrissenen, das weit über die Integration in ein einziges fremdes Zielland hinausgeht. Somit können sich nicht nur jene vom Balkankrieg betroffenen Leser*innen mit dieser dargestellten Zerrissenheit und gleichzeitig auch komplexen Einheit eines Menschen identifizieren, sondern nahezu alle Menschen mit Migrationshintergrund oder Fluchtbiografien, auch in vorangegangenen Generationen, finden sich irgendwo im Roman punktgenau wieder. Eigentlich sind alle angesprochen, die sich selbst nicht als mehrgenerationenweise autochthon bezeichnen.
Diese innere Zerrissenheit versucht Stanisic auch sprachlich mittels Montagetechnik ganz intensiv zu untermauern, was in sehr schnellen und vielen Szenewechseln und vielen aneinandergereihten Anekdoten mündet, die den Autor selbst in seinem Erzählfluss und mich in meinem Lesefluss hin und wieder doch ein bisschen zu sehr behindert hat. Der Flow riss mitunter etwas zu oft ab, wodurch das Buch etwas schwer verdaulich und – möglicherweise auch unnötig – sehr, beziehungsweise zu anspruchsvoll wird. Selbstverständlich folgt diese Dekonstruktion der Handlung anschaulich dem Inhalt: Der Dekonstruktion und Kleinteiligkeit einer aus unterschiedlichen Ethnien geformten und gut integrierten, mit Migrationshintergrund ausgestatteten, komplex zusammengesetzten Persönlichkeit und natürlich der Demenz der Großmutter. Mir war diese stilistische Unterstreichung aber um eine Nuance zu sprunghaft und dadurch zu viel Störung des Lesevergnügens.
Diese Geschichte beginnt mit einem Bauern namens Gavrilo, nein mit einer Regennacht in Višegard, nein mit meiner dementen Großmutter, nein. Die Geschichte beginnt mit dem Befeuern der Welt durch das Addieren von Geschichten. Nur noch eine! Nur noch eine! Ich werde einige Male ansetzen und einige Enden finden, ich kenne mich doch. Ohne Abschweifungen wären meine Geschichten nicht meine. Die Abschweifung ist Modus meines Schreibens.
Das ist für mich aber ein kleinerer Kritikpunkt, denn obwohl Stanišić wie wild montiert, gibt es innerhalb der Kapitel ausreichend Konsistenz und alles zusammen ergibt irgendwann den Sinn, das Konstrukt der Herkunft und Identität seiner eigenen Person zu ergründen.
So nun aber genug des Herumkritisierens, die Stärken des Romans habe ich noch nicht mal erwähnt. Die Fabulierkunst von Stanišić ist sensationell, für seine klugen Sätze könnte man ihn unentwegt abbusserln. Und ich rede hier nicht von ein paar großartigen Formulierungen, die Autoren so ab und an in einem längeren Roman raushauen, sondern die Geschichte strotzt nur so davon. Das sind so in etwa 50 Sätze, beziehungsweise Absätze nur mehr zum Niederknien. Ich markiere solche ungewöhnlichen Perlen ja immer sehr umsichtig mit gelben Post-Its, denn ich bin ja keine barbarische Bucheckenumknickerin oder eine Buchhineinschmiererin. Am Ende schaute das Buch aus, wie ein dottergelb gespickter Käse Igel. Jeden einzelnen der Sätze, die Stanišić eingefallen sind, beziehungsweise die seine Figuren realiter gesagt haben, möchte man sich, wie es ihnen gebührt, mit wunderschönster Schrift eventuell auch kalligraphisch aufmalen und als Bild an die Wand hängen.
Wie man es dreht, Herkunft bleibt doch ein Konstrukt! Eine Art Kostüm, das man ewig tragen soll, nachdem es einem übergestülpt worden ist. Als solches ein Fluch! Oder, mit etwas Glück ein Vermögen, das keinem Talent sich verdankt, aber Vorteile und Privilegien schafft.
Wer lässt seine Oma schon sagen:
Das Zögern hat noch nie eine gute Geschichte erzählt.
Oder über die feministische Rolle der Frau im Sozialismus:
Dann kam der Sozialismus und diskutierte die Rolle der Frau, und die Frau ging aus der Diskussion nach Hause und hängte die Wäsche auf.
Das bringt, wie mein Lesefreund Peter so treffend bemerkt hat, mit nur einem einzigen Satz ein ganzes gesellschaftliches Phänomen und leider auch ein Dilemma des Feminismus auf den Punkt. Ich hätte hier noch viele solcher Aussagen und hoffe, ich habe die richtigen gewählt, um Euch meine Begeisterung nahezubringen.
Das Ende des Romans hat mich sehr überrascht und begeistert. Stanisic hat sich ein spannendes „Chose-your-own-adventure“-Kapitel mit alternativen Handlungssträngen einfallen lassen, die beliebig von den Lesern gewählt werden können. Das erinnert mich an die Dungeons and Dragons Spiele der Big Bang Theory. Ich musste aber drei Mal zurücksetzen und alternativ weiterspielen, weil meine erste Entscheidung immer einen viel zu kurzen Plot nach sich zog. Einige Literaturfreunde, die lieber das Hörbuch kaufen, haben sich beschwert, dass das Ende im Vergleich zum Buch gekürzt wurde. Jetzt verstehe ich auch, warum so eine innovative Idee beim sequentiellen Hörbuch nicht funktionieren kann. Empfehle den Literaturkonsumenten, dies auch bei der Wahl der Erzählform zu beachten.
Fazit: Eine sprunghafte, anekdotische, nicht einfach zu lesende autobiografische Geschichte, die es aber verdient, gelesen zu werden, weil sehr viele spannende Inhalte über Identität, Herkunft, Flucht, Integration und Familie vermittelt werden. Unbedingte Leseempfehlung!
Herkunft von Saša Stanišić ist 2019 im Luchterhand Verlag als Hardcover erschienen. Nähere Infos zum Buch über einen Klick auf das Cover im Beitrag oder auf der Verlagsseite.
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naja, so ganz als nur schrullig wird das in Otto nicht dargestellt. Vielleicht auf dem Rückentext des Buches, aber nicht im Buch selbst. Aber manchmal kann man sich halt von solchen Familienverhältnissen nicht befreien. Dieser seelische Missbrauch iat aber halt auch für die Generation quasi usus – nicht schön, das will ich damit nicht sagen – aber eben usus. Da muss man sich dann aktiv befreien, was Babi ja auf eine gewisse Art und Weise getan hat.
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@davidwonschewski
Danke für Dein Lob. Es stimmt, wir wollen auch mal gelungene Integrationsgeschichten lesen und dieser Literaturtrend freut mich auch sehr. Otto habe ich auch gelesen, aber dieser Roman hatte für mich noch eine andere Kern-Komponente, die mir persönlich so gar nicht gefallen hat. Der seelische Missbrauch Ottos von beiden Töchtern vor allem von Babi und die Verdrängung dieses Umstandes bei der Lieblingstochter bzw. dieses Darstellen des Missbrauchs als schrullig und so ein bisschen humorvoll hat mir persönlich recht sauer aufgestoßen. Aber so hat eben jeder einen eigenen Bezug und Zugang zu einer Geschichte, Du siehst die gelungene Integration und ich einen völlig anderen Aspekt. Das kann eben nur Literatur 🙂
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^Sehr guter Text, trifft komplett meinje Ansicht. Es ist eins ehr gutes Buch, keine Frage, ich habe es sehr gerne gelsen, war zum Schmunzeln, zum nachdenken, zum sich freuen, partiell zum traurig werden. Alles drin und dran. Dass es aber gleich so einen Megapreis abräumt raffe ich nicht ganz. Habe es aber nachträglich gerafft, da ja das Buch „Otto“ von Dana von Suffrin derzeit ähnlich gehypet wird. Auch das habe ich geelsen und finde da, prinzipiell, die selbe Idee. Der Zeitgeist fördert gerade die Idee der gelungenen Integration. Nachdem uns jahrelang die Probleme und das Nichtklappen serviert wurden sehenn wir uns offenbar gerade nach Stoffen, wo es klappt, wenn auch holpernd, aber klappt. Wir wollen keine Geschichten, die uns erzählen wie fremd im fremden Land die Leute immer immer bleiben. Wir wollen kleine emotionale Erfolgsgeschichten, die zerrissen genug sind, um nicht im Pathos zu stranden. Dafür ist es gerade eben die Zeit und das bietet „Herkunft“ genauso wie „Otto“.
Wer mag findet ne Rezension zu „Otto“ auf meinem Blog. Link pioste ich aus Respekt vor dem Gastgeber mal nicht;-)
Viele Grüße,
David Wonschewski
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